2 Mai
Seit ich vor kurzem anfing, mich intensiver mit Anime zu beschäftigen und Blogs und Bücher zu lesen um meine Defizite zum Thema abzubauen, gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, dass es zwischen Anime-Fans und Realfilm-Fans einen nahezu unüberbrückbaren Graben geben muss. Woran kann das liegen?
Typisches Beispiel für die Nichtbeachtung von Animes durch ausgewiesene Filmfans wären etwa die Cineasten-Threads im Rolling-Stone-Forum (wo ich ab und zu mitdiskutiere). Dort beschäftigt man sich fast ausschließlich mit Realfilmen, es gibt lediglich zwei verwaiste Threads über Miyazaki und Mangas/Anime im Allgemeinen. Auch sonst gibt es unzählige Webseiten und Blogs zu Filmen, die Anime aber praktisch nicht wahrnehmen. Und nicht nur die Weiten des Internets scheinen in zwei Lager gespalten zu sein.
Donald Richie, anerkanntermaßen einer der größten Kenner des japanischen Kinos, befasst sich in seinem Buch A 100 Years of Japanese Film sehr intensiv mit der japanischen Filmhistorie und geht auf alle möglichen bekannten und unbekannten Realfilme ein. Anime, die aus der japanischen Filmindustrie seit Jahrzehnten nicht wegzudenken sind, handelt er dagegen auf den letzten 5 Seiten ab.
Die Voreingenommenheit gegenüber Anime hängt bei vielen Otto-Normalkinogehern mit schlichter Unkenntnis zusammen. Ein typisches Beispiel dafür habe ich in einem Gespräch mit Freunden erlebt, die unter Anime nur die Sonntagmorgen-Serien im Kinderprogramm verstehen, in denen Schulmädchen in kurzen Röcken gegen Roboter kämpfen. Dass Anime nicht automatisch kindisch sind, ist dann nur schwer zu vermitteln. Bei Insidern und Kritikern, die Anime zwar kennen, aber auf sie herabschauen und eine „Das sind ja keine richtigen Filme“-Einstellung vor sich hertragen, sind solche Vorurteile vermutlich noch tiefer verankert.
In animation, there is no underlying expectation of any kind of normality. Characters may expand, shrink, or transform. Pigs can fly and cats can talk.
Die Probleme vieler Menschen in Europa und Amerika in der Rezeption und im Umgang mit Anime dürften mit dem Fehlen allgemeingültiger Normen darüber, was Realität ist, zusammenhängen. In Realfilmen (mit Ausnahme mancher Fantasy- und Science-Fiction-Filme) gehen wir selbstverständlich von der Einhaltung gewisser Regeln aus, die wir aus unserem alltäglichen Leben kennen: Prinzipiell gelten hier dieselben sozialen und physikalischen Gesetze. Dies führt dazu, dass der Zuschauer gewisse Erwartungen bezüglich des Handlungsstrangs und der Charaktere hat.
Die meisten Anime dagegen sind geprägt von einer wechselseitigen Durchdringung von Realwelt und Fantasiewelten: Übermenschliche Kräfte, Negierung physikalischer Gesetze, übernatürliche Erscheinungen wie Geister, Dämonen etc. sind hier an der Tagesordnung und treten ganz selbstverständlich in einer ansonsten völlig real scheinenden Welt auf (idealtypisch zu beobachten in den Miyazaki-Filmen). Die Erwartungen an eine „normale“ Entwicklung von Plot und Charakteren werden enttäuscht, was zu einem unbefriedigenden, verstörenden Rezeptionserlebnis und weitgehendem Unverständnis bis hin zu Ablehnung dieser merkwürdigen Welt der Anime führt.
Umgekehrt bin ich aber auch vielen Blogs, Foren, Webseiten aller Art zu Animes begegnet, in denen sich kein Mensch für die großartigen Filme berühmter Regisseure von Kurosawa über Imamura bis Kitano interessiert. Dieses Desinteresse an japanischen Realfilmen seitens der Anime-Fans speziell im Westen mag zum einen daher rühren, dass die Anime-Szene durch die ihr im Westen aufgedrängte Außenseiterrolle sehr stark auf sich selbst fixiert ist und sich dadurch eine in sich abgeschlossene Subkultur gebildet hat.
Besonders bei Fans der Anime-Serien (also wohl dem Großteil der Fanszene) kann ich mir darüber hinaus gut vorstellen, dass die dauerhafte, intensive Teilhabe an den sich von Folge zu Folge weiterspinnenden Handlungssträngen den Blick über den Tellerrand erschwert. Außerdem ist es wahrscheinlich gerade die wechselseitige Durchdringung von Realität und Fantasiewelt in den Anime, die diese Fans so fesselt und die sie in den Realfilmen vermissen, wodurch diese für sie nicht attraktiv sind.
Jedenfalls scheint es höchste Zeit zu sein, dass hier eine Nausicaä oder ein Ashitaka auftauchen, mit unverstelltem Blick zwischen den beiden Lagern eine Brücke schlagen und auf die Chancen zur Bereicherung durch die Auseinandersetzung mit beiden Filmformen hinweisen! 😉
4 Kommentare for "Die Mauer in den Köpfen: Anime vs. Realfilm"
Hmm…ich kenne auf beiden Seiten (Anime/Realfilm) ein paar der „großen Werke“. Das es ein Forum wie dieses gibt, wo beide aufeinander treffen (das „der Graben“ zwischen den Lagern überhaupt wahrgenommen wird) find ich sehr ineressant! Mal sehen was bei rauskommt ^^
Das Vorurteil der Zeichentrickfilme ist für jemand der Anime kennt sehr amüsant.
„Ghost in the Shell“ oder „Evangelion“ sind für „Kinder“ wohl schwer zu „verdauen“, (von der Bedeutung/Intention her) auch wenn die FSK teilweise bei 12 liegt.
Auf der anderen Seite sollte man „Die 7 Samurai“ natürlich gesehen haben!
Also ruhig nen Blick übern Tellerrand riskieren, sonst verpasst man was 😉
Danke dass du diese Thematik hier so offen und prominent ansprichst. ich denke wir hier im „Westen“ haben einfach allgemein ein Problem mit animierten Filmen jeglicher Art, das sie entweder als Kinderfilme oder im Kunstkontext zu experimentellen Werken gezählt werden (Brakhage, McLaren, etc.).
Finde die Ignoranz selbst auch ungeheuerlich, aber das ist wohl ein tiefsitzendes kulturelles Problem. Einer meiner liebsten Filmemacher (und mein bevorzugter Japaner) ist Mamoru Oshii, der bezeichnenderweise sowohl im Animationsfilm wie auch im Realfilm zu Hause ist, dessen Animes aber manchmal „realistischer“ wirken als seine Live-Action Filme. Vielleicht haben wir aber auch nur aufgrund unseres Realismuskonzeptes ein Brett vor dem Kopf.
Sehe jedenfalls kein problem dabei, Oshii, Miyazaki oder Takahata auf die gleiche Stufe zu stellen wie Ozu, Oshima und Naruse. Dass bei den Japanern dieser Vergleich qualitativ so einfach geht spricht aber wiederum gegen uns. Welchen westlichen narrativ orientierten Animationsfilmer würden wir denn neben Antonioni, Bergman oder Welles stellen? Mir fällt da spontan leider niemand ein…
Durch Sanos Kommentar hab ich mir den Artikel noch mal durchgelesen. Ich weiß zwar auch nicht genau, woher der Graben kommt, aber vielleicht tröstet es dich, dass es auch unter „seriösen“ Kritikern Anime-Freunde gibt, z.B. Rüdiger Suchsland:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32328/1.html
Moin! Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass die Akzeptanzprobleme von Anime bei uns mit der Vermischung von Realwelt und Fantasiewelt zusammenhängen. Wenn in einer ansonsten realistischen Darstellung der Adriaregion aus den 1920er Jahren plötzlich ein Pilot in Schweinegestalt auftritt, wird das automatisch als „kindisch“ wahrgenommen.
Hintergrund ist imho die starke Prägung unserer Kultur durch in der griechischen Philosophie und dem Christentum verankerten, klaren Gegensätzen: Geist vs. Körper, Verstand vs. Gefühle, Himmel vs. Hölle, Gut vs. Böse, Realität vs. Fantasie. Im japanische Denken sind (so mein Eindruck und Wissensstand) die Grenzen dagegen sehr viel fließender und durchlässiger. Dadurch hat man einfach weniger Probleme, fantastische Elemente in einer ansonsten realistisch dargestellten Welt zu akzeptieren.
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