19 Mai
Original: Tokyo kazoku (2013) von Yoji Yamada
Tomi (Kazuko Yoshiyuki) und Shukichi (Isao Hashizume), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihr jüngster Sohn Shoji (Satoshi Tsumabuki) kann sich als Freiberufler etwas Zeit freischaufeln und sie zumindest auf einer Bustour durch die Stadt begleiten.
So organisieren die Kinder für ihre Eltern ein Hotel, wo die beiden es aber nicht lange aushalten. Zurück in Tokyo müssen sie jedoch feststellen, dass sie keine Unterkunft haben, weshalb Shukichi einen Bekannten besuchen und Tomi bei Shoji unterkommen möchte. Dort lernt sie überraschend dessen Freundin Noriko (Yu Aoi) kennen und schließt sie sofort in ihr Herz. Doch bevor sie Shukichi davon erzählen kann, erleidet Tomi einen Schlaganfall und fällt ins Koma. Die Überraschung in der Familie ist groß, als Shoji mit Noriko im Krankenhaus auftaucht, um von der Mutter Abschied zu nehmen.
Sechzig Jahre nach Yasujiro Ozus Meisterwerk Tokyo Story machte sich Yoji Yamada an ein Remake, und das mit der dem Original gebührenden Ehrfurcht. Die Story ist nahezu unverändert geblieben, ganze Szenen bis in kleinste Details hinein wurden übernommen: Vom schüchternen Enkelsohn, der bei der Ankunft der Großeltern davonläuft über den Schwiegersohn, der für Tomi und Shukichi Süßigkeiten mit nach Hause bringt und sie fast im Alleingang aufisst bis hin zu Tomis Uhr, die Shukichi Noriko am Ende schenkt – wer das Original kennt und schätzt wird auf Schritt und Tritt altbekanntem begegnen.
Die wichtigsten Änderungen wurden an der Charakterkonstellation vorgenommen. Aus ursprünglich fünf Kindern wurden drei, wobei der mittlere Sohn Shoji – im Original im Krieg gefallen – nun am Leben ist und neben den beiden Großeltern in eine zentrale Rolle rückt. Nicht nur ist es hauptsächlich er, der Zeit mit den beiden verbringt, in seiner Figur kristallisiert sich zugleich die Modernisierung von Ozus Klassiker. Während seine älteren Geschwister Koichi und Shige wie im Original als Arzt respektive Besitzerin eines Schönheitssalons einen klassischen Beruf haben, verkörpert er nämlich eine junge Generation Japaner, die sich oft mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt.
Mit seiner unsteten, künstlerischen und nicht auf eine erfolgreiche Karriere ausgelegten Freiberufler-Tätigkeit stößt er auf Unverständnis und Kritik bei seinem Vater und auch bei seinen Geschwistern, die ihn mehr oder weniger für einen Versager halten. So ist es auch kein Wunder, dass Shoji und Shukichi ein sehr gespanntes Verhältnis haben und im Umgang miteinander kaum ein Wort über die Lippen bringen. Ausgerechnet Shoji – bzw. dessen Freundin Noriko – ist es dann aber, die dem alles in allem enttäuschenden Besuch in Tokyo eine erfreuliche Wendung geben.
Zwar bleibt Yamada bei seinem Remake sehr nahe an der Handlung, er hat aber erfreulicherweise der Versuchung widerstanden, dem Film auch noch den „Ozu-Look“ mit dessen typischen stilistischen Merkmalen zu verpassen. Die berühmte niedrige Kameraposition etwa kommt so selten zum Einsatz, dass die wenigen Momente eher wie eine verbeugende Hommage denn wie ein Stilmittel wirken, und die Frontalaufnahmen bei Gesprächen fehlen fast völlig.
Es fehlt aber auch der wichtige und bedeutungsschwere Schluss des Originals, so dass der Film alles in allem so leichter und zugänglicher wird, aber auch etwas an Tiefe verliert. Dennoch würde ich die – vor allem von Shoji und Noriko verkörperte – vorsichtige Modernisierung durchaus als gelungene Neu-Interpretation ansehen, so weit ich das mit nur einer Sichtung im Flugzeug beurteilen kann. Bleibt zu hoffen, dass der Bezug zum Ozu-Meisterwerk vielleicht für eine Veröffentlichung auch bei uns reicht.
Das Programm der Berlinale wird zwar erst am Montag offiziell bekannt gegeben. Aber wie allgemein bekannt geht die Sonne in Japan etwas früher auf. Wahrscheinlich deshalb ist dem Blog zu Yoji Yamadas neuem Film Tokyo kazoku bereits jetzt zu entnehmen, dass das Werk seine internationale Premiere in Berlin im Rahmen der Sektion „Berlinale Special“ haben wird. Aber nicht nur das. Denn nicht nur Yamada-sans neuer Film – dessen internationaler Titel Tokyo Family lautet – kommt nach Berlin, sondern auch gleich noch sein großes Vorbild: Yasujiro Ozus vor 60 Jahren entstandenen Meisterwerk Tokyo Story, und zwar in einer digital restaurierten Fassung!
Ein guter Grund, mit besonderer Neugier auf die Bekanntgabe des Spielplans am Montag hinzufiebern! Das findet auch der Direktor der Berlinale, Dieter Kosslick, der sich im Tokyo Family-Blog sehr erfreut über den Besuch aus Japan zeigte:
Die „Familie“ Tokyo inspirierende Arbeit, die eine Hommage an „Tokyo Story“, jeder war mit der Auswahl der Mitglieder Arbeit beeindruckt. Berlin Film Festival hat ein warmes Gefühl und seine sehr große Regisseur Yamada, denke ich sind sehr erfreut, in der Lage sein, die Arbeit von Yamada erneut gesiebt überwachen.
Leider ist mein Japanisch nicht so gut wie das von Herrn Kosslick, daher musste ich zu Google Translate greifen 😉
Original: Otoko wa tsurai yo (1969) von Yoji Yamada
20 Jahre, nachdem der Tramp Torajiro Kuruma (Kiyoshi Atsumi), genannt Tora, im Streit von zuhause ausriss, kehrt er in seine Heimat Shibamata, einen Arbeitervorort von Tokyo, zurück. Das tränenreiche Wiedersehen mit Onkel und Tante, vor allem aber seiner jüngeren Schwester Sakura (Chieko Baisho), wird jedoch schon bald überschattet von einem heftigen Streit: Auslöser ist Tora selbst, der sich bei einem Ehevermittlungstreffen so katastrophal aufführt, dass die Familie des Bräutigams Sakura entsetzt absagt. So macht Tora sich wieder auf die Reise.
Wenig später treffen ihn jedoch Gozensama (Chishu Ryu), der Priester aus Shibamata, und dessen hübsche Tochter Fuyuko in Kyoto, wo Tora sich als Fremdenführer durchschlägt. Natürlich verliebt der sich vom Fleck weg in Fuyuko und kehrt mit ihr und ihrem Vater nach Shibamata zurück, wo er auf Umwegen auch gleich seinen Fehler wiedergutmacht und die Hochzeit Sakuras mit einem stillen Verehrer aus der Nachbarschaft einfädelt. Ihm selbst bleibt das Liebesglück allerdings versagt.
Dieser Film war der Auftakt zu einer der langlebigsten und vielteiligsten Filmreihen der Geschichte, bis 1995 folgten noch 47 weitere Filme, alle im Großen und Ganzen mit demselben Team und nach demselben Strickmuster: Tora-san kehrt zu seiner Familie zurück, richtet in seiner gutmütig-dämlichen Art mehr oder weniger großes Chaos an (Handlungsstrang 1) und verliebt sich unglücklich in eine Frau, die natürlich ein paar Nummern zu groß für ihn ist (Handlungsstrang 2). Am Ende macht er sich dann wieder auf die Socken.
Ich habe bisher die ersten vier Filme der Reihe gesehen und davon ist der erste eindeutig der beste. Es gibt darin einige Szenen, die zum lustigsten gehören, was mir in japanischen Filmen begegnet ist, vor allem dank des oft völlig abstrus-unangebrachten Verhaltens von Tora. Tränen gelacht habe ich beispielsweise in der Wiedersehensszene mit Sakura, die ihren lange verschollenen Bruder erst nicht erkennt. Als es dann doch bei ihr Klick macht, setzt natürlich die handelsübliche melodramatische Streichermusik ein, alle brechen in Tränen aus, nur Tora meint: „Ich muss jetzt mal Pissen!“
Auch wenn die Nebendarsteller wie Chieko Baisho oder Chishu Ryu ihre Rollen wunderbar ausfüllen, stehen sie doch alle im Schatten des den Film völlig dominierenden Kiyoshi Atsumi als Tora. Ich habe Atsushi vorher nur einmal gesehen, in Home from the sea, ebenfalls von Yoji Yamada. Dort spielt er einen Fischhändler, einen ähnlich wie Tora veranlagten, gutmütig-lustigen, allseits beliebten aber tragischen Typen, der jedoch viel ruhiger und „normaler“ daherkommt.
Mit Tora dagegen schufen Atsumi und Yamada eine Naturgewalt, einen unverwechselbaren Charakter für die Ewigkeit: Geschwätzig, lustig, teilweise extrovertiert bis zur Unerträglichkeit, faul und egozentrisch, gutmütig, tollpatschig, nicht gerade der Hellste, launisch, hilfsbereit und großzügig und sehr sentimental – ein manngewordener kleiner Junge. Dazu passen auch seine hilflosen und von vornherein zum Scheitern verurteilten Liebesavancen an seine jeweils Angebetete, die so unschuldig-schüchtern sind, dass den Frauen oft gar nicht klar ist, dass er in sie verliebt ist.
Ganz vortrefflich eingefangen ist in den Filmen auch das Japan der frühen Wirtschaftswunderjahre, als es auf der einen Seite noch einfache Händler und Arbeiter wie Toras Familie und Freunde gab, die sich mit harter Arbeit und einfachsten Mitteln irgendwie durchschlugen, und auf der anderen eine aufstrebende Mittelschicht, die in französischen Restaurants isst und Hawaii als Reiseziel entdeckt. Toras Welt ist das nicht, und wird es auch nie sein.
Die Serie spiegelt durch ihre lange Laufzeit ja auch ein Stück weit die Nachkriegsgeschichte Japans und die atemberaubende Entwicklung zu einem der reichsten Länder der Welt wider. Daher würde ich gerne noch einige der späteren Tora-san-Filme aus den 80ern und 90ern sehen. Die Figur des Tora muss im supermodernen Japan dieser Jahre eigentlich total deplatziert wirken und es würde mich sehr interessieren, was Yamada und Atsushi mit der Figur in diesem völlig veränderten Umfeld anstellen.
Alle 48 Filme muss ich aber wirklich nicht gesehen haben, dazu folgen sie zu sehr dem oben beschriebenen, immer gleichen Schema F und auch die Gags fangen ab dem dritten, vierten Film an, sich zu wiederholen. Den ersten und zweiten Teil kann ich jedem allerdings wärmstens empfehlen und ich hoffe auch noch auf das Erscheinen weiterer Filme der Reihe, denn ich bin total neugierig, ob Tora auch in den 90ern noch diesen furchtbaren karierten Zweireiher trägt. 😀
14 Dez
Original: Shiawase no kiiroi hankachi (1977) von Yoji Yamada
Zwischen den Folgen 19 und 20 der „Tora San“-Reihe drehte Yoji Yamada noch schnell – basierend auf einer Erzählung von Pete Hamill – ein mit nicht weniger als 27 Preisen überschüttetes Roadmovie. Darin macht sich der von seiner Freundin sitzen gelassene Kinya (Tetsyua Takeda) mit seinem fahrbaren Untersatz auf nach Hokkaido, wo er an einem Bahnhof die Touristin Akemi (Kaori Momoi) aufliest. Genau wie Kinya hat auch sie gerade eine zerbrochene Beziehung hinter sich. Zu den beiden stößt dann noch Yusaku (Ken Takakura), der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Die drei könnten kaum unterschiedlicher sein: Während Kinya ein groß geratenes, gutherziges Kind ist, allzeit den Clown spielt und kaum weiter als bis zum Lenkrad in seinen Fingern denkt, ist Akemi völlig verunsichert und labil, mal in sich gekehrt, mal jauchzend und dazwischen der eine oder andere Heulanfall. Yusaku betrachtet die beiden jungen Leute anfangs mit offensichtlicher Skepsis und schweigt und grübelt die ganze Zeit vor sich hin. Als einziger der drei scheint seine Reise allerdings ein Ziel zu haben, das einerseits eine magische Anziehungskraft auf ihn ausübt, vor dem er sich aber auch zu fürchten scheint.
Immer wieder reiben sich die drei aneinander, kabbeln sich, stehen kurz davor, getrennter Wege zu gehen und wollen – oder können – dann doch nicht auf einander verzichten und raufen sich wieder zusammen. Als bei einer Polizeikontrolle auf der Landstraße Yusaku eingesteht, dass er wegen Totschlags im Gefängnis war, und anschließend seinen beiden Begleitern das Geheimnis hinter seinem Reiseziel offenbart, nimmt der bis dahin langsam vor sich hinfließende Film richtig Fahrt auf.
Im Kern des Films, auf den sich auch der Titel bezieht, steht letztlich Yusakus Geschichte. Seine Einführung ist auch gleich einer der ersten Höhepunkte und ein Paradebeispiel für die simplen, unaufdringlichen Mittel mit denen Yamada seine Charaktere ausformt: Gerade aus dem Knast entlassen geht Yusaku in der Stadt in ein kleines Restaurant, bestellt Ramen und ein Bier. Als das Bier serviert wird, umklammert er mit zitternden Händen das Glas und stürtzt es in einem Zug hinunter. Er kostet zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Freiheit, den Geschmack hat er schon fast vergessen, doch der fühlt sich offenbar gut an. Takakura spielt wunderbar und einige der 27 Preise des Films gingen an ihn für seine Leistung.
The Yellow Handkerchief lässt uns viel Zeit, die drei Hauptcharaktere kennenzulernen und angesichts der kleinen, ungekünstelten, erfreulich menschlichen Details, die Regisseur Yamada während der Reise einstreut, nehmen wir uns diese gern. Es macht einfach Spaß, den dreien zuzusehen, wie sie – verunsichert wie sie alle sind – sich langsam aneinander herantasten und sich dabei auch mal auf die Füße treten. Aber letztlich ist es kein Zufall, dass sie in einem Mazda der Modellreihe Familia unterwegs sind: Sie lernen, zu vergeben und füreinander da zu sein und überwinden so gemeinsam ihre Einsamkeit.
Das gelbe Taschentuch, das dem Film seinen Titel gibt, wird so am Ende zu einem Symbol der Hoffnung. Dabei kommt The Yellow Handkerchief trotz des Happy-Ends, bei dem wohl fast jeder die eine oder andere Träne verdrücken dürfte, völlig ohne die unnötig kitschigen, sich wie Kaugummi ziehenden „Jetzt bitte Taschentuch rausholen“-Momente aus, von denen wir leider in so vielen Filmen geplagt werden. Ein Feelgood-Movie im allerbesten Sinne, der zugleich auch noch Tiefe hat – Regisseur Yamada ist hier wirklich ein kleiner, feiner Film für die Ewigkeit gelungen.