Original: Tokyo monogatari (1953), von Yasujiro Ozu

Tomi (Chieko Hagashiyama) und Shukishi (Chishu Ryu), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihre verwitwete Schwiegertochter Noriko (Setsuko Hara) ist sehr bemüht und kümmert sich rührend um die Besucher.

Nach dem Besuch eines Seebads, wo Tomi einen Schwächeanfall erleidet, machen sich die beiden wieder auf die Heimreise, die sie jedoch in Osaka bei ihrem jüngsten Sohn wegen eines erneuten Anfalls unterbrechen müssen. Kaum sind sie zuhause angelangt, fällt Tomi ins Koma und stirbt wenig später. Die Familie kommt erneut zusammen, um von der Mutter Abschied zu nehmen.

Tokyo Story Screenshot 3

Für einen Film mit 135 Minuten Lauflänge ist das eine, na sagen wir, nicht gerade dicht gedrängte Handlung. Doch die Handlung ist für Yasujiro Ozu nicht das zentrale Organisationsprinzip seiner Filme, was Tokyo Story idealtypisch aufzeigt. In fast allen seiner Filme geschehen oberflächlich gesehen völlig alltägliche und normale Dinge, die bei genauer Betrachtung aber an tiefe Gefühle rühren. So auch hier: Ein Familientreffen; kleinere Streitigkeiten unter Verwandten; Kinder, die sich von ihren Eltern entfremden; Eltern, die genau darüber enttäuscht sind; Trauer und Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Der Lauf des Lebens eben.

Doch schon so mancher Regisseur ist daran gescheitert, den Lauf des Lebens in 135 Minuten zusammenzufassen. Und Ozu zeigt diesen nicht nur aus der Perspektive der beiden Alten. Er setzt sich auch mit der Gefühlswelt der trauernden Noriko, der nahegelegt wird, wieder zu heiraten, den Nöten der Kinder und der Enttäuschung der noch bei den Eltern lebenden jüngsten Tochter Kyoko (Kyoko Kagawa) angesichts ihrer nach dem Tod der Mutter rasch in den Alltag zurückkehrenden älteren Geschwister auseinander.

Dabei wahrt Ozu immer die Distanz, wird nie wertend oder schwingt lehrerhaft den Zeigefinger. Jede Generation hat ihre eigenen Bedürfnisse, Nöte und Herausforderungen und muss ihren eigenen Weg finden und gehen. Daran ist nichts Gutes oder Schlechtes, es ist einfach der Lauf des Lebens, und sich darüber zu grämen oder zu jammern ist sinnlos und verursacht nur Magengeschwüre. Für diese Einsicht stehen besonders Shukishi und Noriko.

Tokyo Story Screenshot

Am Anfang des Films sehen wir ihn mit seiner Frau Tomi beim Packen, eine Nachbarin schaut vorbei und wünscht eine gute Reise. Dieses Bild Shukichis, vor einem Fenster sitzend, wird später im Film wiederholt auftauchen. Zunächst wieder zusammen mit Tomi, doch dann er allein, während sie draußen mit ihrem Enkel spielt und dabei über ihren Tod sinniert. Damit deutet Ozu vorsichtig bereits die letzten Szenen des Films an, als Shukichi wieder zuhause vor dem Fenster sitzt, nach Tomis Tod, für immer allein. Wieder schaut die Nachbarin vorbei, diesmal, um ihr Beileid auszudrücken.

So verlassen wir Shukichi in fast exakt derselben Szene, in der wir ihm zuerst begegnet sind, nur dass er nun dem Rest seines Lebens allein entgegen sehen muss. Doch er trägt dieses Schicksal mit Fassung, fast stoisch, und nutzt die Gelegenheit der Trauerfeier, um der angereisten Noriko noch einmal nahezulegen, wieder zu heiraten und den Kreis des Lebens erneut in Gang zu setzen.

Tokyo Story Screenshot 4

Noch deutlicher bringt Noriko es auf den Punkt. Auf Kyokos Enttäuschung über die älteren Geschwister, die sich nach der Trauerfeier rasch auf den Rückweg nach Tokyo machten, erwidert sie dieser, dass diese nunmal ihr eigenes Leben hätten und es nur logisch wäre, dass für sie daher die Eltern nicht mehr im Zentrum stünden. Auf Kyokos verärgerten Ausruf „Ist das Leben nicht enttäuschend!?“ antwortet Noriko lächelnd: „Ja, das ist es.“ Dieser Ausdruck der Erkenntnis und fast freudiger Akzeptanz des Schicksals ist nicht zuletzt dank Setsuko Hara der Höhepunkt des Films, und eine der eindringlichsten Szenen in einem Ozu-Film überhaupt.

Wie nebenbei erreichte Ozu mit Tokyo Story auch noch den Höhepunkt (Achtung, ich kenne noch lange nicht alle seine Filme, aber die bekannteren) seines im Weltkino wohl einzigartigen, in sich geschlossenen und stringenten Stils, der sich keineswegs in ästhetischen Aspekten erschöpft, auch wenn diese eine wichtige Rolle spielen, siehe seine Kameraführung, sondern konzeptionell sehr viel breiter aufgestellt ist. Dazu gehören insbesondere sein außergewöhnlicher Umgang mit Raum und Zeit.

Tokyo Story Screenshot 2

Dass er auf Kontinuität der dargestellten Handlung nicht allzuviel Wert legt, wird in Tokyo Story gleich mehrfach deutlich: Die Reise nach Tokyo selbst, inklusive eines Zwischenstops in Osaka sowie die Erkrankung Tomis auf der Rückreise werden komplett ausgeklammert. Die Bedeutung der Narration als ordnendes Element eines Films schwächt er weiter ab durch fehlende zeitliche Bezüge: Außer bei der Organisation der Trauerfeier gibt es für uns Zuschauer kaum eine Möglichkeit, einzuschätzen, wieviel Zeit verstreicht.

Als ob dies nicht verwirrend genug wäre, spielt Ozu permanent mit räumlichen Verhältnissen. Ein Mittel sind die überleitenden Stilleben, die er zum einen nutzt, um Orte der Handlung zu etablieren, aber auch, um mit geweckten Erwartungen zu spielen. Bestes Beispiel dafür ist die beschriebene Eingangsszene, in der Tomi und Shukichi sich über den Verlauf ihrer Reise unterhalten und den Zwischenstop in Osaka erwähnen. Nach dem Gespräch sehen wir verschiedene Szenen einer Großstadt und ihrer Vororte und erwarten logischerweise, dass Osaka nun der Handlungsort ist. Stattdessen sind wir schon in Tokyo, die Reise wurde übersprungen und die doppeldeutigen Stillleben verstärken unsere Überraschung noch zusätzlich.

Die auffälligste Art der Raumbehandlung bei Ozu ist jedoch seine Verwendung eines 360-Grad Raums statt des sonst üblichen 180-Grad Raums. Er bewegt die Kamera ohne die sonst üblichen Kontinuitäts-Einschränkungen (die dafür sorgen sollen, dass der Zuschauer sich leicht orientieren und problemlos der Handlung folgen kann) frei im Raum. Die untere Zusammenstellung von neun direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen bzw. Schnitten innerhalb einer Szene macht dies deutlich (Ablauf in Zeilen wie beim Lesen).

Tokyo Story Screenshot 1

Wir sehen Noriko und die sie besuchenden Schwiegereltern, Blick auf Noriko. Der normale Ablauf wäre nun, immer einen oder zwei über die uns zugewendete Schulter der jeweils anderen Person zu zeigen, damit die Sitzpositionen, Blickrichtungen und der Hintergrund derselbe bleiben und der Zuschauer nicht verwirrt wird. Doch Ozu springt unvermittelt auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wir sehen nun Noriko von hinten und Tomi und Shukichi „tauschen“ die Plätze und der Hintergrund ist komplett ausgetauscht. Im Verlauf des Gesprächs sehen wir die Darsteller jeweils frontal, und am Ende springen wir noch zweimal auf die andere Seite des Raums. Jedes der neun Einzelbilder könnte für sich genommen einer komplett anderen Szene zugehören, es gibt für den unbedarften Betrachter kaum eine Möglichkeit, diese zueinander in Bezug zu setzen.

Neben der sensiblen Auseinandersetzung mit dem Verfall familiärer Beziehungen, dem Umgang mit dem Alter, Tod und Verlust bietet Tokyo Story also auch noch ein filmisches Selbstverständnis, das regelrecht als alternativer Ansatz zu den gängigen Konventionen verstanden werden kann. Nicht umsonst wird Tokyo Story seit Jahrzehnten von Filmkritikern und -theoretikern mit schöner Regelmäßigkeit zu den besten Filmen in der Geschichte des Kinos gerechnet.