19 Aug
Original: Tsigoineruwaizen (1980) von Seijun Suzuki
Irgendwann in den 1920er Jahren begegnet der Deutschprofessor Aochi (Toshiya Fujita) in einem Küstenort seinem alten Freund Nakasago (Yoshio Harada), der beschuldigt wird, eine Frau getötet zu haben. Nachdem Aochi den Vorwurf entkräften konnte, verbringen die beiden einige Tage in der Gegend und sammeln dabei die Geisha Koine (Naoko Otani) auf. Nakasago, der die meiste Zeit in den Tag hinein lebt und es gewohnt ist, seine Begierden auszuleben, ist von Koine fasziniert und es entwickelt sich eine Affäre zwischen den beiden, bevor sich die Wege der drei wieder trennen.
Einige Monate vergehen, dann erfährt Aochi, dass sich Nakasago niedergelassen und geheiratet hat. Bei einem Besuch ist Aochi schockiert, dass Nakasagos Ehefrau Sono (Naoko Otani in einer Doppelrolle) der Geisha Koine frappierend ähnlich sieht und von Nakasago obendrein ziemlich herablassend behandelt wird, obwohl sie ein Kind von ihm erwartet. Es dauert nicht lange, und der rastlose Nakasago macht sich auf die Wanderschaft. Es entwickeln sich Affären zwischen Sono und Aochi, und später auch zwischen Nakasago und Aochis Ehefrau.
Wer die früheren Genre-Filme Suzukis voller Yakuza, Auftragskiller und Schießereien kennt, wird seinen Augen kaum trauen. Nach dem Rausschmiss bei Nikkatsu drehte Suzuki hier einen Film, der einen ständig im Unklaren lässt, der in voller Absicht mit seiner eigenen Künstlichkeit spielt, der sich mehr und mehr von einer linearen Handlung verabschiedet, den Zuschauer vor den Kopf stößt, und schließlich völlig abrupt endet. Selten bin ich mit so vielen Fragezeichen auf der Stirn aus einer Vorführung herausgekommen – und habe mich dabei doch vorzüglich unterhalten gefühlt.
Das dürfte zu einem guten Teil an der erstaunlichen Kreativität liegen, mit der Suzuki Handlungsfragmente zu einem bizarren Ganzen zusammenfügt, assoziativ zwischen Fragmenten springt und mit Stilelementen und Techniken überrascht. Auf der emotionalen Ebene werden permanent Treuebrüche, Eskapaden, Gewissensbisse, Misstrauen und Vertrautheit zwischen den Charakteren angedeutet und sofort wieder hinterfragt. Nichts ist verlässlich, nichts ist wie es scheint.
Zudem ist der Film von einem ständigen Hauch der Dekadenz durchzogen: Nakasago, der scheinbar ohne irgendwelche materiellen Abhängigkeiten durch die Lande streift und dabei einerseits alle seine Sinne zu befriedigen sucht, zugleich aber auch mit der Schwelle des Todes kokettiert und eine gewisse Morbidität ausstrahlt. Aochi, der mit seiner reichen Frau in luxuriösen Strandhäusern residiert. Die erotisch aufgeladenen Momente zwischen den beiden Ehepaaren tragen ebenfalls zu der besonderen Atmosphäre bei.
Zigeunerweisen basiert auf einem Roman von Hyakken Uchida, dem Autor und Deutschprofessor, dem Akira Kurosawa seinen letzten Film Madadayo gewidmet hatte. Der Filmtitel spielt auf die gleichnamige Komposition für Violine und Orchester des spanischen Komponisten Pablo de Sarasate an. Eine Schallplattenaufnahme dieses Stücks spielt im Film eine zentrale Rolle: Nakasago spielt seinem Freund Aochi die Aufnahme vor und weist ihn darauf hin, dass während der Aufnahme die Musiker einen kurzen Kommentar abgeben, dessen Inhalt die beiden aber nicht verstehen können. Am Ende des Films findet sich die Schallplatte plötzlich in Aochis Haus wieder, ohne dass der davon wusste.
Wie kaum einen anderen Film kann man Zigeunerweisen nach Lust und Laune interpretieren. Man kann an den Beziehungen der Akteure ansetzen, an Zeit und Gesellschaftsumständen des Japans der 1920er Jahre, bei den Elementen klassischer japanischer Geistergeschichten. Für mich ist es eine „Jekyll und Hyde“-Geschichte, die sich überwiegend in der Fantasie Aochis abspielt, der sich mit zunehmendem Verlauf des Films immer mehr in seiner Fantasiewelt verliert, bis er sich dem Rand des Wahnsinns nähert.
Zigeunerweisen wurde von Suzuki völlig unabhängig von einem Studio realisiert und fand zunächst keinen Verleih. Der Produzent Genjiro Arato ließ daraufhin den Film in einem speziell entwickelten mobilen Zelt aufführen – ein Überraschungserfolg. Er wurde 1981 in vier Kategorien mit den japanischen Academy Awards ausgezeichnet, darunter bester Film und beste Regie. Auch bei anderen Festivals und von dem renommierten Filmmagazin Kinema Junpo mit Preisen überschüttet und gilt als einer der besten japanischen Filme der 1980er Jahre. Sicherlich ist der Film nicht jedermanns Sache, aber wer Freude an ungewöhnlichen, anspruchsvollen Filmen hat, wird hier ein wahres Juwel finden. Bleibt nur zu hoffen, dass das Werk irgendwann auch bei uns auf DVD oder Bluray verfügbar wird.
23 Jul
Original: Shojotachi no rashinban (2011) von Shunichi Nagasaki
Vier Schülerinnen einer Theater-AG rasseln mit der leitenden Lehrerin aneinander und entschließen sich, aus der AG auszutreten und ihr eigenes Ding zu machen. Unter dem Namen „Girls‘ Compass“ studieren sie ungewöhnliche Stoffe ein, proben auf der Strasse und auf öffentlichen Plätzen. So und versammeln sie schnell eine wachsende Schar an Fans um sich, und werden obendrein auch noch enge Freunde.
Doch der Erfolg wird überschattet von üblen Beleidigungen und persönlichen Angriffen auf der Webseite der Gruppe gegen eines der Mädchen. Obendrein gibt es Streit zwischen zwei anderen über das Drehbuch für ein Stück, das die Truppe bei einem wichtigen Kulturwettbewerb aufführen will.
So wie oben beschrieben hat die Story super funktioniert, und mit den durchweg sehr guten darstellerischen Leistungen der Nachwuchs-Stars Riko Narumi, Shiori Kutsuna, Ayaka Morita und Mayuu Kusakari zusammen wäre das eine runde Sache geworden mit allen Optionen für ein Happy-End oder auch einen tragischen Ausgang. Allerdings haben die Macher um die Story der Theater-Gruppe herum noch eine Rahmenhandlung gesponnen, die sich mit dem Tod einer der vier beschäftigt.
Girls‘ Compass beginnt deshalb mit der Anreise einer Schauspielerin zu Dreharbeiten an einem Independent Film, der in einem abgelegenen, zerfallenen Hotel spielt. Wir wissen nicht, wer die Schauspielerin ist, aber schnell wird klar, dass sie etwas mit „Girls‘ Compass“ zu tun hatte und dass es um die Theatergruppe ein dunkles Geheimnis gibt. In immer länger werdenden Rückblenden wird nun die eingangs beschriebene Story erzählt, bis sich am Ende herausstellt, dass der Schauspielerin der Mord an einem der „Girls‘ Compass“-Mitglieder vorgeworfen wird – und dass die Zeit für Rache gekommen ist.
Vielleicht wollten die Macher nicht einfach einen weiteren Film über kreative Schülerinnen machen, die sich zusammenraufen und ihre Band oder was auch sonst immer gegen alle Umstände durchziehen. Fair enough, das ist ein hehres Ziel. Leider passen die beiden zeitlich versetzten Handlungsstränge aber nicht wirklich zusammen, worunter besonders die Atmosphäre leidet. Die ist in jedem der beiden Stränge für sich genommen absolut stimmig, nur zusammen will das ganze einfach nicht richtig zünden.
Dennoch ist Girls‘ Compass ein guter und interessanter Film, aus meiner Sicht war er noch einer der besten beim JFFH2013. Die Charaktere sind gut ausgelotet mit spannenden, glaubhaften Konflikten und Problemen und die Theaterstory bietet einige ungewöhnliche Ideen. Hätten die Macher ein bisschen mehr Mut zur Schere gehabt und dem Film entweder ein anderes Ende verpasst oder gleich zwei eigenständige Filme daraus gemacht, hätte das ein echtes Highlight werden können. Auf die vier jungen Schauspielerinnen werde ich aber zukünftig auf jeden Fall ein Auge haben, könnte mir denken, dass wir von denen noch einiges hören und sehen werden.
10 Jul
Original: Yamikin Ushijima-kun (2012) von Masatoshi Yamaguchi
Der titelgebende Kredithai Ushijima (Takuyaki Yamada) bestimmt das Schicksal aller Charaktere in diesem Film. Da wäre zuerst Jun (Kento Hayashi), der erfolgreich Parties organisiert und davon träumt, Großevents und Konzerte zu veranstalten und bei den Reichen und Schönen ein- und aus zu gehen. Doch zuerst braucht er Geld, um eine große Location für den endgültigen Durchbruch anzumieten. Doch Jun ist clever und tüftelt einen Plan aus, um Ushijima in den Knast zu bringen und das geliehene Geld nicht zurück zahlen zu müssen. Aber ist er wirklich clever genug um es mit Ushijima aufzunehmen?
Der Gegenpol zu Jun ist die Schülerin Mirai (Yuko Oshima), die selbst keine Ambitionen auf ein glamouröses Leben hat, deren Mutter allerdings bei Ushijima verschuldet ist. So gerät auch sie unter Druck, schnell Kohle beizuschaffen und erfährt dabei, wie „einfach“ und schnell ein junges hübsches Mädchen Geld verdienen kann.
Wie so viele andere Filme dieser Tage basiert auch Ushijima the Loan Shark auf einer TV-Serie, die wiederum auf einem Manga basiert. Und – ohne die Serie gesehen oder den Manga gelesen zu haben – behaupte ich jetzt einfach mal, dass man dem Film seine Herkunft ansieht: Leider setzt der nämlich immer mal wieder auf plakative Effekte, völlig unrealistische Plot-Entwicklungen und Actionelemente, welche überhaupt nicht zu der fast an eine Dokumentation erinnernden kapitalismuskritischen Story und Charakterkonstellation passen. Mehr Emanzipation von der Vorlage hätte hier meiner Meinung nach aus einem guten Filmen einen verdammt guten machen können.
Denn Ushijima the Loan Shark ist einer der seltenen Filme, der schonungslos unseren ganz auf Konsum gegründeten Lebensstil, unser Streben nach dem schnellen, leicht verdienten Geld, unsere Geltungssucht und das Anhimmeln von Promis – die es scheinbar geschafft haben – thematisiert und bitterböse kritisiert. Es dürfe wohl kaum jemanden geben, der sich beim Anschauen dieses Films nicht an der einen oder anderen Stelle ertappt und angesprochen fühlt. Und Regisseur Yamaguchi, der zuvor auch die Fernsehserie produziert hatte, ist alles andere als zimperlich: Besonders angetan hat es mir die Eröffnungssequenz, in der Ushijima eine Party sprengt. C-Promis, Neureiche und Aufschneider aller Art vergnügen sich und machen so gut es geht auf dicke Hose, und dann kommt der Kredithai und fordert seine Millionen zurück – mit seinen krassen Methoden (ich sage nur: Stromkabel und Nase) lässt Ushijima der ganzen Sippe richtig schön die Luft raus.
Der zweite Handlungsstrang um Mirai, die gegen die Versuchung des Geldes ankämpft und von allen Seiten bedrängt, angefleht und sogar von ihrer eigenen Mutter regelrecht wie Vieh taxiert wird, geht fast noch mehr ans Eingemachte. Hier liefert Yuko Oshima, die zu den Mitgliedern der Pop-Gruppe AKB48 gehört, in der Rolle der Mirai eine sehenswerte Leistung ab, für die sie auch schon ausgezeichnet wurde.
Alles in allem ein sehenswerter Film mit sehr ernster und aktueller Thematik, bei dem ich mir gewünscht hätte, dass die eine oder andere Nebenhandlung samt Charakteren (was sollte dieser blonde Killer im Pelzmantel?!?) gestrichen worden wäre, um ihn dichter und stimmiger zu machen. Dennoch einer der besten Beiträge auf dem JFFH2013.
16 Jun
Original: Gumo ebian! (2012) von Toru Yamamoto
Die Teenagerin Hatsuki (Ayaka Miyoshi) und ihre Mutter Aki (Kumiko Aso) sind vor Freude ganz aus dem Häuschen, als Akis Freund Yagu (Yo Oizumi), der für Hatsuki eine Art Ersatzvater ist, von einer langen Reise zurückkehrt. Wie ein Wirbelwind bricht der hochgradig unkonventionelle, in den Tag hineinlebende und scheinbar in seiner Teenagerzeit steckengebliebene Hobby-Punkrocker über die heile Welt der beiden herein und sorgt für mächtig Betrieb und Spaß.
Doch es dauert nicht lange, bis die ungewöhnliche Patchwork-Familienidylle erste Risse bekommt. Hatsuki muss sich entscheiden, wie ihre Schullaufbahn weitergehen soll und fühlt sich dabei von ihrer mit Yagu bis spät in die Nacht trinkenden und in alten Zeiten schwelgenden Mutter alleingelassen. Mehr und mehr bekommt sie das Gefühl, dass sie als einzige in der Familie an die Zukunft denkt, und sehnt sich nach einer normalen Familie.
Auf eines ist wirklich Verlass beim JFFH: Es gibt immer eine sympathisch-überdrehte, ungewöhnliche und auch etwas nachdenkliche Familienkomödie im Programm. In diesem Jahr wurde diese Kategorie erfolgreich und sehr ansehnlich von G’mor evian! besetzt, der mich in mancher Hinsicht an Café Isobe von vor ein paar Jahren erinnerte, nicht nur weil dort ebenfalls Kumiko Aso mitspielte. Die soll während der Dreharbeiten übrigens im 5. Monat schwanger gewesen sein, mir ist nichts aufgefallen.
Dieser Typ Film steht und fällt üblicherweise mit den Leistungen der Schauspieler und der Chemie zwischen ihnen. Und da hat mich G’mor evian! wirklich überzeugt. Yo Oizumi ist einfach umwerfend als punkrockender Slapstick-Duracellhase mit dem großen Herz und Aso und Miyoshi geben ein sehr gutes Mutter-Tochter Gespann ab. Dazu kommt noch die exzellente Musikauswahl, so dass der Film richtig Laune und Spaß macht, sich aber nicht allein darauf beschränkt sondern sich auch damit beschäftigt, wie Menschen trotz all ihrer charakterlichen Unterschiede und verschiedenen Vorstellungen vom Leben als Familie gemeinsam glücklich werden können.
Eine Schwachstelle ist jedoch die Nebenhandlung um Hatsukis beste Freundin, in die der Film in den ersten beiden Dritteln ziemlich viel investiert, die dann aber urplötzlich sang- und klanglos verschwindet und sich somit als reiner Plot-Device herausstellt. Schade, ändert aber nichts daran, dass G’mor evian! einer der rar gesäten guten Filme auf dem JFFH2013 war. Der merkwürdige Titel des Films ist übrigens eine japanisch verballhornte Version von Good morning everyone, die Yagu als Lebensmotto aus Australien mitbrachte.
Original: Rurōni Kenshin: Meiji kenkaku roman tan (2012) von Keishi Ohtomo
In den Kämpfen zwischen Gegnern und Anhängern des Kaisers im Jahre 1868 gelangt ein junger Assassine wegen seiner fast übermenschlichen Schnelligkeit und einer Spezialtechnik im gleichzeitigen Kampf gegen mehrere Gegner unter dem Namen Battosai zu Berühmtheit. Doch er findet sich auf der Seite der Verlierer und schwört angesichts des Blutvergießens, sein Schwert nie wieder einzusetzen um andere zu töten.
Zehn Jahre später zieht er als Ronin unter dem Namen Kenshin Himura (Takeru Sato) durch die Lande und begegnet der jungen Kaoru (Emi Takei), die den Ruf der Kampfschule ihres Vaters bewahren will. Denn unter deren Namen begeht ein Mann, der sich Battosai nennt, eine Serie blutiger Morde. Als auch noch die Medizinerin Megumi (Yu Aoi) sich vor dem Opiumhändler und seiner Gang, für die sie Drogen entwickeln soll, in Kaorus Schule flüchtet, wird es für Kenshin immer schwerer, seinen Schwur einzuhalten.
Als Abschluss des JFFH2013 lieferte Samurai X nochmal solide Unterhaltung. Handwerklich ist der Film sehr gut gemacht, die Kämpfe sind rasant geschnitten, gut choreografiert und absolut auf der Höhe der Zeit. Was jedoch auffällt im Unterschied zu Hollywood-Blockbustern ist das Fehlen des seit dem Erfolg der Bourne-Trilogie zu beachtenden Realismus-Trends, und das obwohl der Film sich klar in der historischen Realität verortet. Ganz im Gegenteil sind Charaktere und teilweise auch Handlung stark überzeichnet, was den Ursprung in einer Manga-Serie eindeutig erkennen lässt.
Mit den manga-esken Charakteren geht leider auch einher, dass diese doch sehr schablonenhaft sind und ihnen teils jegliche nachvollziehbare Motivation fehlt. Überrascht hat mich in dieser Hinsicht lediglich die von Yu Aoi gespielte Megumi, die zwar auch einige Inkonsistenzen aufweist, die aber zumindest undurchsichtig und unberechenbar ist. Fast etwas nervig fand ich – vor allem im ziemlich konstruierten Finale – den ständigen Verweis auf Kenshins friedliebende, Gewalt ablehnende Lebenseinstellung.
In Japan war diese Adaption des Mangas von Nobuhiro Watsuki letztes Jahr einer der erfolgreichsten heimischen Filme. Auch auf dem JFFH herrschte großer Andrang und als Popcorn-Unterhaltung ist der Film ganz gut anzusehen und macht durchaus Spaß, vor allem weil er sich selbst nicht so bierernst nimmt. Unter dem Strich kann er mich aber nicht wirklich überzeugen: Er ist zu vorhersehbar als dass wirklich Spannung aufkommen könnte, die Charaktere sind wenig interessant und sooo bombastisch sind die Kämpfe dann doch nicht, dass sie den Film allein tragen könnten.
19 Mai
Original: Tokyo kazoku (2013) von Yoji Yamada
Tomi (Kazuko Yoshiyuki) und Shukichi (Isao Hashizume), ein älteres Ehepaar, reisen aus der Provinz nach Tokyo, um ihre Kinder und Enkelkinder zu besuchen. Nach der anfänglichen Freude und Begeisterung anlässlich des Wiedersehens müssen die beiden bald erfahren, dass ihre Kinder angesichts der Arbeit und ihrer eigenen Familien kaum Zeit und Geduld haben, sich mit den beiden Alten abzugeben. Nur ihr jüngster Sohn Shoji (Satoshi Tsumabuki) kann sich als Freiberufler etwas Zeit freischaufeln und sie zumindest auf einer Bustour durch die Stadt begleiten.
So organisieren die Kinder für ihre Eltern ein Hotel, wo die beiden es aber nicht lange aushalten. Zurück in Tokyo müssen sie jedoch feststellen, dass sie keine Unterkunft haben, weshalb Shukichi einen Bekannten besuchen und Tomi bei Shoji unterkommen möchte. Dort lernt sie überraschend dessen Freundin Noriko (Yu Aoi) kennen und schließt sie sofort in ihr Herz. Doch bevor sie Shukichi davon erzählen kann, erleidet Tomi einen Schlaganfall und fällt ins Koma. Die Überraschung in der Familie ist groß, als Shoji mit Noriko im Krankenhaus auftaucht, um von der Mutter Abschied zu nehmen.
Sechzig Jahre nach Yasujiro Ozus Meisterwerk Tokyo Story machte sich Yoji Yamada an ein Remake, und das mit der dem Original gebührenden Ehrfurcht. Die Story ist nahezu unverändert geblieben, ganze Szenen bis in kleinste Details hinein wurden übernommen: Vom schüchternen Enkelsohn, der bei der Ankunft der Großeltern davonläuft über den Schwiegersohn, der für Tomi und Shukichi Süßigkeiten mit nach Hause bringt und sie fast im Alleingang aufisst bis hin zu Tomis Uhr, die Shukichi Noriko am Ende schenkt – wer das Original kennt und schätzt wird auf Schritt und Tritt altbekanntem begegnen.
Die wichtigsten Änderungen wurden an der Charakterkonstellation vorgenommen. Aus ursprünglich fünf Kindern wurden drei, wobei der mittlere Sohn Shoji – im Original im Krieg gefallen – nun am Leben ist und neben den beiden Großeltern in eine zentrale Rolle rückt. Nicht nur ist es hauptsächlich er, der Zeit mit den beiden verbringt, in seiner Figur kristallisiert sich zugleich die Modernisierung von Ozus Klassiker. Während seine älteren Geschwister Koichi und Shige wie im Original als Arzt respektive Besitzerin eines Schönheitssalons einen klassischen Beruf haben, verkörpert er nämlich eine junge Generation Japaner, die sich oft mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt.
Mit seiner unsteten, künstlerischen und nicht auf eine erfolgreiche Karriere ausgelegten Freiberufler-Tätigkeit stößt er auf Unverständnis und Kritik bei seinem Vater und auch bei seinen Geschwistern, die ihn mehr oder weniger für einen Versager halten. So ist es auch kein Wunder, dass Shoji und Shukichi ein sehr gespanntes Verhältnis haben und im Umgang miteinander kaum ein Wort über die Lippen bringen. Ausgerechnet Shoji – bzw. dessen Freundin Noriko – ist es dann aber, die dem alles in allem enttäuschenden Besuch in Tokyo eine erfreuliche Wendung geben.
Zwar bleibt Yamada bei seinem Remake sehr nahe an der Handlung, er hat aber erfreulicherweise der Versuchung widerstanden, dem Film auch noch den „Ozu-Look“ mit dessen typischen stilistischen Merkmalen zu verpassen. Die berühmte niedrige Kameraposition etwa kommt so selten zum Einsatz, dass die wenigen Momente eher wie eine verbeugende Hommage denn wie ein Stilmittel wirken, und die Frontalaufnahmen bei Gesprächen fehlen fast völlig.
Es fehlt aber auch der wichtige und bedeutungsschwere Schluss des Originals, so dass der Film alles in allem so leichter und zugänglicher wird, aber auch etwas an Tiefe verliert. Dennoch würde ich die – vor allem von Shoji und Noriko verkörperte – vorsichtige Modernisierung durchaus als gelungene Neu-Interpretation ansehen, so weit ich das mit nur einer Sichtung im Flugzeug beurteilen kann. Bleibt zu hoffen, dass der Bezug zum Ozu-Meisterwerk vielleicht für eine Veröffentlichung auch bei uns reicht.
6 Nov
Original: Shinkansen daibakuha (1975) von Junya Sato
Als der Hikari-190 Hochgeschwindigkeitszug in Tokyo mit mehr als 1000 Passagieren abfährt, ahnt noch niemand, dass sich an Bord eine Bombe befindet. Und die ersten Reaktionen der Verantwortlichen auf die Bombendrohung sind gelassen: Schon wieder? Gut, wir halten den Zug an und durchsuchen ihn. Doch der clevere Plan der Bombenleger um ihren Anführer Okita (Ken Takakura) hat das einkalkuliert, ihre Bombe explodiert, sobald der Zug die Geschwindigkeit von 80 km/h unterschreitet!
Während die Bahnchefs zusammen mit dem Zugführer Aoki (Sonny Chiba) die Strecke freiräumen und um jede Minute ringen, bricht unter den Passagieren langsam Unruhe aus: Warum fährt der Zug so langsam? Und warum hält er nicht in Nagoya? Parallel macht sich die Polizei auf die Suche nach den Bombenlegern und nimmt Kontakt mit dem Erpresser auf. Als eine erste Übergabe des geforderten Geldes scheitert und dabei einer der Bombenleger getötet wird, beginnen auch die Verantwortlichen bei der Bahn die Nerven zu verlieren. Nur einer bleibt ganz cool und greift auf Plan B zurück: Okita selbst, denn er hat nichts mehr zu verlieren.
Etwas ganz erstaunliches passiert an dieser Stelle mit dem Film: Er wendet sich von der – ganz den Konventionen des Katastrophen-Genres inklusive hysterischer schwangerer Frau entsprechenden – Handlung um den dahinrasenden Shinkansen ab und der Geschichte Okitas zu. In zahlreichen Flashbacks erfahren wir, dass sein Leben durch den Bankrott seiner Firma und die anschließende Scheidung seiner Frau aus der Bahn geworfen und jeglichen Sinns beraubt wurde. Wie er daraufhin mit zwei Freunden, einem gescheiterten linken Möchtegern-Revolutionär und einem arbeitslosen Jugendlichen, den Plan bis ins kleinste Detail ausheckt. Und wie er nun mit ansehen muss, wie die Polizei sich auf ihre Fährte setzt und einen nach dem anderen zur Strecke bringt.
Durch diese Wendung des Films verlagern sich auch die Sympathien immer mehr in Richtung Okita und seinem Team aus Underdogs und Verlierern vom Rand der Gesellschaft. Dazu trägt auch die Darstellung der Polizei bei, die gemachte Zusagen ignoriert, buchstäblich über Leichen geht und sich bei ihrer Jagd nach den Verbrechern auch nicht allzu sehr um das Schicksal der Passagiere an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges zu kümmern scheint.
Nicht viel besser kommen die Verantwortlichen bei der Bahn und die eingeschalteten Politiker weg, denen es vor allem darum geht, ihr Gesicht zu wahren. Zwischen raffinierten, spannend inszenierten Geldübergaben, Verfolgungsjagden und Versteckspiel mit der Polizei verschwimmen so nach und nach die Grenzen zwischen gut und böse und verkehren sich in das Gegenteil des erwarteten, allgemein üblichen Schemas. Ein Aspekt, mit dem mich The Bullet Train sehr positive überraschte und der ihn aus der Masse der Katastrophenfilme weit heraushebt.
Wobei der Film in Ken Takakura natürlich auch einen großartigen Hauptdarsteller zu bieten hat. Kaum jemand kann so wie er den grüblerischen, von der Welt und den Menschen enttäuschten und verlassenen einsamen Wolf geben, der langsam aber sicher immer weiter in die Enge getrieben wird. Sonny Chiba, der groß angekündigt wird, spielt dagegen nur eine Nebenrolle.
Die Kamera ist viel in Bewegung und ganz nah an den Akteuren dran, bis hin zu extremen Nahaufnahmen wie man sie besonders aus den Italo-Western kennt. Diese Realitätsnähe scheint zu den Markenzeichen von Regisseur Junya Sato gehört zu haben, der ähnlich wie Kinji Fukasaku mit knallharten und „systemkritischen“ Yakuza-Filmen bekannt wurde, was ich mir angesichts der Ausrichtung von The Bullet Train sehr gut vorstellen kann. In den 70er Jahren gehörte er dann zu den kommerziell erfolgreichsten Filmemachern seines Landes, besonders in der Zusammenarbeit mit seinem Star Takakura.
Auch stilistisch bietet der Film deutlich mehr als nur dröge Action-Alltagskost. Frosch- und Vogelperspektive kommen häufig zum Einsatz und immer wieder auch die verkantete Kamera, was besonders im Zusammenspiel mit den Erinnerungen Okitas an seine zerbrechende Ehe (siehe den Screenshot oben) einen starken Eindruck hinterlässt und die zerbrechende Welt des Charakters schön wiederspiegelt und versinnbildlicht.
Problematisch ist, dass der Film auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt: Die ausführliche Entwicklung von Okitas persönlicher, auch familiärer Story, die Ermittlungen der Polizei und der Kampf der Menschen an Bord des Zuges sind dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten. Das sieht man auch der Laufzeit von ca. 150 Minuten an, hier wäre etwas mehr Fokus wünschenswert gewesen. Ansonsten aber ein sehr guter und erfreulich anderer Action- und Katastrophenfilm der 70er Jahre, mit entsprechend knalligem Soundtrack und trotz der Länge hohem Unterhaltungswert. nicht umsonst dienter er 20 Jahre später als Inspiration für den Blockbuster Speed.
15 Aug
Original: Kamisama no karute (2011), von Yoshihiro Fukagawa
In einer kleinen Provinzklinik müht sich der junge, talentierte Arzt Kuriharai (Sho Sakurai) unermüdlich für das Wohl seiner Patienten. Er bemüht sich zwar, eine professionelle Distanz zu halten, reibt sich aber doch auf und vernachlässigt sein Privatleben und seine Frau Haruna (Aoi Miyazaki). Eines Tages bekommt er eine Einladung zu einem Seminar an einer renommierten Uni-Klinik und kann den leitenden Arzt dort so nachhaltig beeindrucken, dass ihm bald darauf eine Stelle angeboten wird.
Obwohl diese neue Position ihm eine stärkere Spezialisierung, Arbeit nach den neuesten Methoden und geregeltere Arbeitszeiten bringen würde, zögert er jedoch. Grund ist eine todkranke Krebspatientin, die ihm vor Augen führt, welche wichtige Rolle er im Leben und Tod einzelner Menschen spielen kann, und dieser unmittelbare Bezug zu den Patienten würde ihm in der großen Uni-Klinik verloren gehen.
Eingeschoben in die oben skizzierte Haupthandlung ist noch eine Nebenhandlung um mehrere Mitbewohner Kuriharais und seiner Frau, die wohl in einem alten Gasthaus wohnen. Der Bezug zur Haupthandlung hat sich mir dabei nicht wirklich erschlossen, ich kann nur vermuten, dass dieser im Aufgreifen des Abschieds-Motivs (Abschied von Freunden hier, vom Leben in der Haupthandlung) liegt.
Wenn das so als Parallele gedacht war, ist es nicht wirklich gelungen, wie eigentlich der ganze Film mich ziemlich enttäuscht hat: Spannende Themen wie Alterung der Gesellschaft, Einsamkeit im Alter, Pflege oder vielleicht gar Sterbehilfe werden gar nicht oder nur oberflächlich angeschnitten. Stattdessen erliegt der Film wie so viele andere der Versuchung, sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Und Aoi Miyazaki, eine großartige Schauspielerin, auf die ich mich sehr gefreut hatte, spielt im Film eine fast nur dekorative Rolle. Positiv aufgefallen ist mir allerdings Sho Sakurai, der als Teil der Boygroup Arashi berühmt wurde und in der Vergangenheit überwiegend an TV-Serien und Teenie-Filmen mitwirkte. Insofern ist seine Rolle in In His chart wohl als Schritt in Richtung einer ernsthaften Schauspielkarriere zu bewerten, der gar nicht mal so schlecht ausfällt.
Alles in allem ist In His chart einfach viel zu langatmig und weist einige Brüche und kaum aufeinander abgestimmte Handlungsstränge auf. Sehr schade auch, dass wichtige Charaktere mit großem Potenzial unterentwickelt bleiben. Auf der Habenseite stehen jedoch eine warmherzige Atmosphäre und eine humanistische Botschaft. Alles in allem eher ein belangloser denn ein schlechter Film.