Archive for Januar, 2008

Original: Linda Linda Linda (2005), von Nobuhiro Yamashita

Eine Gruppe Mädchen plant, für ein Festival an ihrer Schule eine Band auf die Beine zu stellen und einige Songs aufzuführen. Dummerweise hat sich die Gitarristin gerade zwei Finger gebrochen, und die Gründerin der Band, Kei (Yu Kashii), hat sich mit einer Freundin, die ebenfalls in der Band mitwirken sollte, zerstritten. Nun springt Kei, die eigentlich kaum Gitarre spielen kann, als Gitarristin ein und als Sängerin wird kurzerhand die koreanische Austauschschülerin Son (Doo-na Bae), die nur gebrochen Japanisch spricht, rekrutiert.

Der Film zeigt, wie die vier Mädchen – außer den beiden genannten noch Schlagzeugerin Kyoko (Aki Maeda) und Bassistin Nozomi (Shiori Sekine) – innerhalb von drei Tagen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammenwachsen, Freundinnen werden und neben dem Einstudieren der Songs noch mit typischen Problemen des Erwachsenwerdens zu kämpfen haben. Die schüchterne Kyoko beispielsweise verliebt sich in einen Mitschüler, kann sich aber nicht überwinden, ihm ihre Gefühle zu offenbaren. Kei dagegen muss sich mit dem Streit mit ihrer besten Freundin und einer in die Brüche gegangenen Beziehung auseinandersetzen und ist zu Beginn des Films (verständlicherweise) deprimiert, reizbar und schlecht gelaunt, findet aber dank der Band wieder zu guter Laune und Spaß am Leben zurück.

Screenshot Linda 2

Was an Linda Linda Linda sofort auffällt, ist sein langsamer Rhythmus, der im starken Kontrast zu den Punkrock-Songs der Blue Hearts steht, welche die Mädchen einstudieren (und von denen einer dem Film seinen Namen gab). Regisseur Nobuhiro Yamashita bleibt mit der Kamera immer auf Distanz, vermeidet Kamera-Bewegungen und hält die Einstellungen sehr lange. Damit schafft er jedoch ganz wunderbare Stimmungsgemälde und lässt seine Charaktere in dieser etwas wehmütigen, melancholischen Stimmung aufgehen.

Nachtrag: Ich habe nachgezählt und bin auf 335 Schnitte gekommen, was bei einer Gesamtlaufzeit von 114 Minuten durchschnittlich 3 Schnitte pro Minute sind. Ich habe leider keine Vergleichszahlen zur Hand, aber für einen Film des 21. Jahrhunderts und einen Regisseur der Videoclip-Generation (Yamashita war 2005 gerade mal 29) sind das ist unglaublich lange Einstellungen!

Besonders in der ersten Hälfte, während der Einführung der beiden Hauptpersonen Kei und Son, verdeutlicht diese Distanziertheit die Isolation der beiden: Die Austauschschülerin Son, die sich nur schwer verständigen kann und keine Freunde hat, sehen wir allein vor den Plakatwänden ihres Projekts zum Koreanisch-Japanischen Kulturaustausch. Kei, die gerade mit einer alten Freundin im Streit ist, treibt allein im Pool.

Screenshot Linda 1

Yamashita verzichtet konsequent auf jegliche Stereotypen und die allseits bekannten Klischees von Teenie-Filmen: Kein Gekreische, keine Zickenkriege (wir erfahren nie, warum sich Kei und ihre Freundin zerstritten haben), keine konstruierten Konflikte mit Lehrern, Eltern oder irgendwelchen Schulhof-Mobbern. Er zeigt einfach nur die Geschichte von vier ganz normalen Mädchen, mit ganz normalen Nöten und Problemen, die kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit noch eine Band gründen. So entsteht ein sehr glaubwürdiges, realistisches Porträt.

Diese Schlichtheit und der langsame Rhythmus lassen Linda Linda Linda besonders in der ersten Hälfte, während des zaghaften Kennenlernens der vier, für den einen oder anderen vielleicht etwas dröge wirken, aber ich bin mir sicher: Würde Ozu heute einen Teenager-Film drehen, dann sähe das Resultat ungefähr so aus! Die immer wieder eingestreuten Bilder aus dem Schulgebäude, von langen Korridoren, Schließfächern oder Fahrradständern erinnern stark an die typischen Stillleben bei Ozu, auch wenn sie natürlich einem anderen Zweck dienen und in erster Linie die Atmosphäre der Schule aufgreifen, transportieren und im Zuschauer die Erinnerung an die eigene Schulzeit wecken sollen.

Screenshot Linda 3

Trotz der simplen Story und der schlichten Ästhetik wirkt der Film aber keineswegs kalt oder intellektuell-abgehoben. Dazu trägt zum einen gerade in der zweiten Hälfte der großartige Soundtrack mit den von den Mädchen gespielten Songs der Blue Hearts bei. Die Energie, Lockerheit und Lebendigkeit der Musik geben die sich wandelnde Stimmung wieder und passen hervorragend zu dem ausgelassenen Spaß, den die vier trotz aller Schwierigkeiten beim Musizieren haben.

Zum anderen sind es die schauspielerischen Leistungen, die den Film tragen. Besonders Doon-na Bae in der Rolle der Son (im unteren Screenshot links) hält den Film zusammen, wird zum Dreh- und Angelpunkt; dank ihr sehen wir die zunächst zurückhaltende, in der fremden Umgebung etwas chaotisch agierende Son regelrecht aufblühen. Ihre Direktheit und die fehlende Vertrautheit mit Normen und Verhaltensweisen sorgen zudem immer wieder für skurril-komische Momente, etwa wenn sie in einer Karaoke-Bar dem Besitzer so lange auf die Nerven geht, bis der darauf verzichtet, dass sie ein Getränk bestellen muss. Mit ihrer Begeisterung und ihren großen Augen reißt sie die anderen (und den Zuschauer) mit und wird mit ihrem warmen sympathischen Wesen zum emotionalen Mittelpunkt der Band.

Screenshot Linda 5

Ihr ist klar, dass der ganze Spaß den sie mit der Band hat, die Befreiung aus ihrer Isolation in diesem fremden Land und die großartige Erfahrung während ihres Austauschs ihr völlig unverhofft in den Schoß fielen. Sie ergreift einfach die gebotene Gelegenheit, kostet diese ganz aus und ermöglicht dadurch das enge Zusammenwachsen der Band, da sie keinen Ballast mit sich trägt.

Wieder einmal ein kleiner, gelungener und sehr charmanter Film, der einen wehmütig an die eigene Jugend zurückdenken lässt, als das ganze Leben vor einem lag, noch alle Möglichkeiten offenstanden und man noch auf nichts festgelegt war. Zugleich weckt er aber auch die Erinnerung an dieses Gefühl des Abschiednehmens, des Auskostens einer vielleicht einzigartigen (weil letzten?) Gelegenheit, und die Unsicherheit darüber, was vor einem liegt. Aber Achtung, wer sich diesen wunderbaren Film anschaut sollte sich darauf einstellen, neben der DVD auch gleich noch die CDs der Blue Hearts kaufen zu wollen, die Songs haben nämlich definitiv Ohrwurm-Potenzial!

Die Liste der Kategorien ist inzwischen kräftig angewachsen, so dass sie langsam anfangen etwas unübersichtlich zu werden. Besonders die Regisseurnamen sind nicht mehr so ohne weiteres zu finden, weil ich sie bisher immer nach dem Muster „Vorname Nachname“ benannt habe und sie daher nach den Anfangsbuchstaben der Vornamen sortiert waren. Das ist aber nicht so wirklich praktisch, glaube ich.

Daher werde ich heute auf die Original-japanische Reihenfolge „Nachname Vorname“ umstellen. Das hat auch gleich den praktischen Nebeneffekt, dass die Miyazaki-Kategorie dann zwischen „Miike“ und „Mizoguchi“ steht, und nicht wie bisher zwischen „Hamburg“ und „Hiroshi Teshigahara“. Ein kleiner Schritt für den Blog, hoffentlich ein großer für den Gelegenheitsbesucher!

Der Januar neigt sich dem Ende zu, die Listen der besten Filme von 2007 müssen noch schnell zusammengezimmert werden, bevor die ersten Festivals von 2008 beginnen. Das haben sich wohl auch vier der Hauptautoren von Midnight Eye gedacht und jeweils ihre 10 besten japanischen Filme des vergangenen Jahres (und nicht-japanische) zusammengestellt. Tom Mes, Jasper Sharp, Jason Gray und Nicholas Rucka sind sicher immer für einen interessanten Geheimtipp gut, ich kann die genannten Filme daher jedem nur ans Herz legen.

Eine aggregierte Liste haben die Kollegen nicht veröffentlicht und das offenbar mit gutem Grund: Abgesehen von Strawberry Shortcakes, Tekkonkinkreet, Memories of Matsuko und Sukiyaki Western Django weisen die vier Listen kaum Gemeinsamkeiten auf (die drei ersten Filme wurden allerdings noch 2006 produziert), weshalb es auch mit der Kinema Junpo Best10-Liste wenig Überschneidungen gibt. Ich nehme das dennoch als weiteren Beleg für die Vielseitigkeit, Lebendigkeit und Vielfalt des japanischen Kinos.

Übrigens können bei Midnight Eye auch die Leser über „ihre“ Bestenliste abstimmen. Mein Favorit in der Liste wäre ebenfalls Strawberry Shortcakes, der in der Abstimmung derzeit auf Platz 2 liegt hinter Paprika.

Benshi

Benshi sind eine der faszinierendsten kulturellen Eigenheiten im Weltkino. Dabei handelte es sich um Erzähler, die während einer Filmvorstellung neben oder vor der Leinwand saßen und dem Publikum nicht nur die Untertitel der Stummfilme vorlasen, sondern die gesamte Handlung begleiteten, in die verschiedenen Rollen der Charaktere schlüpften und diesen ihre Stimme liehen. Man kann sich das so ähnlich wie ein Hörspiel vorstellen, bei dem zusätzlich auch noch Bilder geliefert werden. Teilweise fassten sie auch schon vor Beginn des Films die Handlung kurz zusammen und bereiteten die Zuschauer auf die Vorführung vor.

Da die Benshi sich auf eine Tradition im Kabuki und Noh-Theater berufen konnten, wurden sie vom Publikum als natürlicher und wichtiger Bestandteil der Vorstellung begriffen und erlangten oft Star-ähnlichen Status. Ende der 1920er Jahre waren Benshi fester Bestandteil der japanischen Filmindustrie inklusive eigener Gewerkschaft. Dieser Umstand wird oft als einer der Gründe für das im internationalen Vergleich ungewöhnlich lange Festhalten der Filmschaffenden an Stummfilmen angeführt (der Tonfilm setzte sich erst Mitte der 1930er Jahre in Japan durch und bis in die frühen 1940er Jahre hinein wurden noch Stummfilme produziert).

Mit ihrem Niedergang war natürlich auch das Ende der Benshi besiegelt. Allerdings gibt es auch heute noch einzelne Künstler, die Filmvorführungen als Benshi begleiten. Am bekanntesten ist wohl Midori Sawato, die regelmäßig (auch auf internationalen Festivals) Benshi-Performances bietet.

Letztes Jahr war ich mit meiner Dauerkarte und viel Begeisterung auf dem 8. Japanischen Filmfestival hier in Hamburg unterwegs und habe über die gesehenen Filme und das eine oder andere Erlebnis drumherum so ausführlich ich konnte berichtet. Abschließend war ich damals mit den Filmen sehr zufrieden, hatte aber noch ein paar Anregungen, besonders was die Verbesserung der Festival-Website anging. Tja, und die kann ich jetzt selbst umsetzen, ich bin inzwischen nämlich offiziell im Organisationsteam und natürlich für die Website zuständig. Ich konnte ja meine Klappe nicht halten… 😉

Am Freitag war das erste große Treffen, auf dem einiges zur Organisation besprochen und noch offene Aufgaben verteilt werden sollten. Das war natürlich sehr spannend, aus der Zuschauerrolle in die eines unmittelbar Mitwirkenden zu wechseln! So informiert kann ich an dieser Stelle schonmal ankündigen, dass das Festival etwas später beginnen wird als in der Vergangenheit, voraussichtlicher Starttermin ist der 28. Mai 2008. Und es werden etwas weniger Filme laufen als 2007, Feedback vieler Besucher war wohl, dass man sich von der Vielfalt etwas überfordert fühlte.

Ansonsten? Es wird wohl noch jemand gesucht, der die Kopiekontrolle übernimmt (also die Filmkopien entgegennehmen, in die Kinos schaffen und zum Verleiher zurück- bzw. zum nächsten Festival weitersenden). Eine ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt, aber auch sehr interessant ist weil man mit vielen Leuten aus der Branche in Kontakt kommt. Wäre ich nicht mit der Website schon gut ausgelastet, würde mich das ganz schon reizen. Wer Lust hat, mitzumachen, ich vermittele gern den Kontakt! Vielleicht könnte man da auch ein Praktikum drumherum stricken?

Das kleine japanische Label Digital Meme startete vor ein paar Monaten seine Talking Silents-Reihe mit alten Stummfilmen. Der Knüller dabei: Die Tonspuren enthalten die begleitenden Erzählungen von Benshis! (Notiz an mich selbst: Post zu Benshis schreiben!)

In Japan, silent films were not really „silent.“ Back in the age of silent films, the movie theaters in Japan fascinated audiences with exciting performances in which screenings were accompanied by live music and Benshi narration. Through its new DVD product Talking Silents Digital Meme brings back to life this unique Japanese cultural heritage in a digital format.

Die ersten beiden Editionen – welche glücklicherweise die Hamburger Bücherhallen angeschafft haben und die ich neulich mit glänzenden Augen ausgeliehen habe – drehen sich ganz um Kenji Mizoguchi und sind für den Fan wirklich unschätzbar! Auf der ersten findet sich nicht nur Die weißen Fäden des Wasserfalls von 1933, sondern auch noch der Kurzfilm Tokyo March von 1929, beide mit Benshi-Begleitung, sowie ein Interview mit dem Filmkritiker Tadao Sato und Benshi Midori Sawato. Ähnlich die zweite DVD, die neben dem Hauptfilm The Downfall of Osen noch das einzig erhaltene Fragment von Tojin Okichi sowie ebenfalls Interviews mit Tadao Sato und Midori Sawato enthält. Mehr zu den Filmen demnächst. Natürlich ist alles original japanisch, aber keine Sorge, die DVDs sind eindeutig für den internationalen Markt gedacht und enthalten sehr gute englische Untertitel. Die Ausgaben drei und vier der Talking Silents sind ebenfalls bereits erschienen und enthalten Filme Tsumasaburo Bandos, der Held zahlreicher Schwertkampffilme und gewissermaßen der Toshiro Mifune der Vorkriegszeit war.

Die Qualität des Tons ist bei den neu eingespielten Benshi-Erzählungen (die mit Klaviermusik hinterlegt sind) natürlich sehr gut, bei den etwas älteren Aufnahmen der Benshis Suisei Matsui und Shunsui Matsuda muss man dann schon Abstriche machen. Die Bildqualität ist in Anbetracht des Alters der Filme in Ordnung.

Die DVDs kann man direkt auf der Website von Digital Meme bestellen, bei Preisen von je 5229 Yen (ca. 34 Euro) zuzüglich Porto in unbekannter Höhe kann ich aber verstehen, wenn jetzt nicht gleich jeder zuschlägt. Was Digital Meme aber zu wünschen wäre! Die DVDs sind natürlich bei weitem nicht so opulent ausgestattet wie die der Criterion Collection, aber allein dafür, dass sie den Mut hatten, sich in diese Nische hineinzuwagen, muss man ihnen gratulieren, Respekt zollen und Erfolg wünschen. Ganbatte ne!

Original: Ukigusa monogatari (1934), von Yasujiro Ozu

Eine wandernde Theatertruppe unter Leitung des alternden Schauspielers Kihachi (Takeshi Sakamoto) kommt in eine kleine Stadt auf dem Lande. Dort lebt seine frühere Geliebte Otsune (Chouko Iida) mit ihrem gemeinsamen Sohn Shinkichi (Koji Mitsue), mit denen Kihachi nun viel Zeit verbringt. Die beiden verschweigen Shinkichi jedoch die Identität seines Vaters und machen ihn glauben, dieser wäre schon lange tot.

Als Kihachis derzeitige Geliebte Otaka (Rieko Yagumo), Schauspielerin und Mitglied der Truppe, von Kihachi „Familie“ erfährt, wird sie eifersüchtig. Es kommt zum Streit mit Kihachi und aus Ärger über ihn bezahlt sie ihre Kollegin Otoki (Yoshiko Tsubouchi), Shinkichi zu verführen. Die beiden verlieben sich jedoch auf Anhieb ineinander, der Konflikt mit Kihachi, der sich für seinen Sohn eine bessere Zukunft als das Leben eines fahrenden Schauspielers wünscht, wird unausweichlich.

Screenshot Story of floating weeds 3

Besonders ins Auge gestochen ist mir Takeshi Sakamoto, der zuvor bereits in einigen Filmen Ozus mitgewirkt hatte und bis Ende der 40er Jahre zu dessen festem Stamm an Schauspielern gehörte, in der Rolle des Kihachi. Wie er dessen Charakter zum Leben erweckt und ausformt, ist wirklich ganz wunderbar! Angesichts dessen, dass es sich um einen Stummfilm handelt, bediente er sich dabei einer Reihe von kleiner Gesten und Manierismen, etwa, dass Kihachi sich ständig kratzt, mal im Gesicht, am Rücken, am Hintern oder wie hier im Screenshot am Oberschenkel. Auch dieses Tuch auf seinem Kopf trägt er ständig mit sich herum, reibt sich damit den Schweiß aus dem Gesicht oder fächelt sich Luft zu.

So entsteht ein sehr lebendiges Bild eines einfachen Mannes, der sich im Umgang mit Menschen oft etwas unwohl fühlt, wozu auch seine Rückgriffe auf Gewalt passen, denn er ohrfeigt Otaka mehrfach heftig für ihre Intrigen, und auch Otoki und Shinkichi bekommen seine Hand zu spüren. Sein gutes Herz und die väterliche Liebe zu Shinkichi veranlassen ihn dann aber doch dazu, den jungen Leuten ihren Willen zu lassen. So gibt er Otoki und Shinkichi seinen Segen, bevor er sich – gemeinsam mit Okata, mit der er sich versöhnt – wieder auf die Wanderschaft macht, um die kleine Familie nicht zu belasten.

Seine eigene Sehnsucht nach einer Familie und dem Zusammensein mit seinem Sohn bleibt dabei tragisch unerfüllt, er bleibt im Leben des ewigen Vagabunden gefangen. Dies verdeutlicht besonders die letzte Szene des Films: Kihachi und Okata sitzen im Zug und begießen mit einem Glas Sake ihre Versöhnung. Kihachi gegenüber schläft ein kleiner Junge, den er lange und sehnsüchtig anstarrt. Doch er ist nicht für eine feste Familie geschaffen, sein Schicksal ist es, wie das Gras im Titel ziellos im Strom des Lebens zu treiben.

Screenshot Story of floating weeds 1

Ozus komödiantische Wurzeln sind in A Story of Floating Weeds unübersehrbar und lockern die Handlung sehr viel stärker auf, als ich dies aus seinen berühmten Nachkriegsfilmen wie Tokyo Story kenne. Obwohl sein unverkennbarer Stil natürlich noch lange nicht voll entwickelt ist sind fast alle Elemente dennoch bereits vorhanden, wenn auch noch nicht so klar herausgearbeitet und konsequent eingesetzt.

Ein Beispiel wäre die Verwendung der Kamera, die einerseits meist die typische niedrige Position einnimmt, aber andererseits bei weitem noch nicht so statisch wirkt wie in den späteren Filmen. So gibt es einige Kamerafahrten, etwa durch die Zuschauer bei einer Theatervorstellung, und auch die Schnitte erfolgen für einen Film der dreißiger Jahre sehr schnell, was dem Film einerseits Dynamik verleiht und ihn andererseits für 1934 sehr modern erscheinen lässt.

Charakteristisch für Ozu – wenn hier auch nur ansatzweise vorhanden – ist die Verwendung von Ellipsen, bei denen eine angekündigte Handlung nicht im Bild gezeigt wird. Das wohl prominteste Beispiel dafür wäre die Szene, in der Otaka von Kihachis „familiären Verpflichtungen“ erfährt und sie dem Schauspieler, der diese versehentlich erwähnte, Geld für weitere Auskünfte bietet. Ozu schneidet hier von der den Geldbeutel zückenden Otaka direkt in das Gasthaus, in dem Kihachi mit seinem Sohn Schach spielt und wo gleich darauf Otaka auftaucht.

Screenshot Story of floating weeds 2

Allgegenwärtig sind jedoch bereits die überleitenden Schnitte mit Ansichten von Alltagsgegenständen, Gebäudeansichten oder Landschaften, die sehr an Stillleben erinnern und die Ozu regelmäßig nutzt, um zwei Szenen zu verbinden, einen Ortswechsel einzuleiten oder das Vergehen der Zeit anzudeuten. In Story of Floating Weeds nutzt er dazu besonders häufig Shinkichis Fahrrad, das im Lauf des Films regelrecht zu einem Platzhalter für Shinkichis Gegenwart wird.

Letztlich endet der Film, wie er begann: Am Bahnhof, mit einer Zugfahrt, einer Reise. So umrahmt Ozu diese kleine aber feine Familiengeschichte, die voller Parallelen, vieler Details und liebevoll gestalteter Charakter steckt. Die 2004 extra für die Criterion DVD eingespielte, die Handlung wunderbar einfühlsam und lebendig begleitende Klaviermusik tut ihr übriges, um dieses Juwel aus der Findungsphase des großen Meisters voll und ganz zur Geltung kommen zu lassen.

Seit über 80 Jahren benennt das renommierte Filmmagazin Kinema Junpo jährlich die 10 besten japanischen Filme. Ohne große Worte zu verlieren, das sind die ausgezeichneten des vergangenen Jahres:

  1. I just didn’t do it (Masayuki Suo)
  2. A gentle breeze in the village (Nobuhiro Yamashita)
  3. Talk, Talk, Talk (Hideyuki Hirayama)
  4. Sad Vacation (Shinji Aoyama)
  5. Summer Days with Coo (Keiichi Hara)
  6. Dog in a Sidecar (Kichitaro Negishi)
  7. Matsugane Pot Shot Affair (Yobuhiro Yamashita)
  8. Tamamoe (Junji Sakamoto)
  9. Yunagi City, Sakura Country (Kiyoshi Sasabe)
  10. Funuke show some love, you losers (Daihachi Yoshida)

Bin mal gespannt, welche davon auf den anstehenden Festivals hierzulande gezeigt werden.

Via Jason Gray