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Original: Sono gosōsha wo nerae: ‚Jūsangō taihisen‘ yori (1960) von Seijun Suzuki

Bei einem Angriff auf einen Gefangenentransporter der Polizei tötet ein Scharfschütze zwei Insassen. Der begleitende Gefängniswächter Tamon (Michitaro Mizushima) wird anschließend beurlaubt und beginnt auf eigene Faust, der Sache auf den Grund zu gehen. Er spricht mit Angehörigen der Opfer und der anderen Häftlinge und reist dazu in einen Kurort, wo er Zeuge eines Mordes an einer Tänzerin wird – sie wird von einem Bogenschützen erschossen.

So gerät er auf die Spur einer dubiosen Model-Agentur, deren Chefin Yuko (Misako Watanabe) erstaunlich gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann. Als Tamon entdeckt, dass die Agentur von einem Mädchenhändler-Ring als Fassade benutzt wird, und Yuko gegen diesen Missbrauch zu kämpfen scheint, stellt er sich auf ihre Seite. Doch damit wird er zum Ziel des mächtigen und geheimnisvollen Chefs der Yakuza, den noch nie jemand von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben scheint und der von allen nur Akiba genannt wird.

Der Film ist Bestandteil der „Nikkatsu Noir“-Box von Criterion, aber mit Film Noir hat Take aim at the police van eher wenig zu tun. Gut, der Film spielt zum großen Teil nachts und spielt im Untergrundmilieu, aber der Held Tamon ist so ziemlich das genaue Gegenteil eines gebrochenen, zynischen Film noir-Helden, der mit der Welt abgeschlossen hat. Tamon ist ein aufrechter, ehrlicher und bescheidener Typ, der an das Gute im Menschen glaubt und seine Nachforschungen aus Sorge und Verantwortungsgefühl heraus aufnimmt, und nicht weil ihn jemand dafür bezahlt. Einer wie du und ich, einer von nebenan, ein Durchschnittstyp.

Damit hätten wir auch schon die erste Schwachstelle des Films angesprochen: Der Held ist ein ziemlicher Langweiler, da ändert auch die allgegenwärtige Kombination aus Trenchcoat und Mütze nichts dran. Ein noch viel größeres Problem ist der Handlungsverlauf, der bei knapp 80 Minuten so vollgepackt ist, dass es nahezu unmöglich ist, den Überblick zu behalten. Die Handlung macht immer wieder Sprünge und dreht Pirouetten, um irgendwie die riesigen Löcher im Plot zu kaschieren. Zudem tauchen ständig neue Personen auf und verschwinden wieder und totgeglaubte Leute sind plötzlich doch lebendig. Ein ziemliches Durcheinander.

Eine weitere Schwäche des Films sind die Charaktere, bzw. das Fehlen echter Charaktere. Der Held Tamon bleibt blass und das Sammelsurium an Nebencharakteren besteht überwiegend aus Schablonen. Kaum jemand hat eine nachvollziehbare Motivation für sein Handeln oder bekommt auch nur den Hauch von Charakterentwicklung ab. Die meisten Personen dienen nur dazu, irgendwie den Plot voran zu bringen.

Insofern also ziemliches Mittelmaß mit mäßigem Unterhaltungswert und nicht unbedingt empfehlenswert. Es sei denn, man hat gerade eine Retrospektive von Seijun Suzuki gesehen und weiß, wozu der Mann fähig ist. Dann sieht man hier ein hervorragendes Beispiel einer Auftragsarbeit, die er wahrscheinlich schnell und lieblos herunterdrehen musste. Und dennoch ist an einigen Stellen sein Können zu erahnen.

Dazu gehören besonders der einleitende Überfall auf den Transporter und die atmosphärische Schlusssequenz mit dem nächtlichen Showdown am Rangierbahnhof. Aber auch dazwischen blitzen in coolen Einstellungen, Kameraperspektiven und Bildkompositionen Elemente dessen auf, was Suzuki mit seinen späteren Filmen wie Tokyo Drifter, Gate of Flesh oder Branded to Kill berühmt werden ließ. Als einer der wenigen im Westen erhältlichen frühen Filme Suzukis gibt Take aim at the police van einen interessanten Kontrast zu diesen Meisterwerken ab.

Original: Tsigoineruwaizen (1980) von Seijun Suzuki

Irgendwann in den 1920er Jahren begegnet der Deutschprofessor Aochi (Toshiya Fujita) in einem Küstenort seinem alten Freund Nakasago (Yoshio Harada), der beschuldigt wird, eine Frau getötet zu haben. Nachdem Aochi den Vorwurf entkräften konnte, verbringen die beiden einige Tage in der Gegend und sammeln dabei die Geisha Koine (Naoko Otani) auf. Nakasago, der die meiste Zeit in den Tag hinein lebt und es gewohnt ist, seine Begierden auszuleben, ist von Koine fasziniert und es entwickelt sich eine Affäre zwischen den beiden, bevor sich die Wege der drei wieder trennen.

Einige Monate vergehen, dann erfährt Aochi, dass sich Nakasago niedergelassen und geheiratet hat. Bei einem Besuch ist Aochi schockiert, dass Nakasagos Ehefrau Sono (Naoko Otani in einer Doppelrolle) der Geisha Koine frappierend ähnlich sieht und von Nakasago obendrein ziemlich herablassend behandelt wird, obwohl sie ein Kind von ihm erwartet. Es dauert nicht lange, und der rastlose Nakasago macht sich auf die Wanderschaft. Es entwickeln sich Affären zwischen Sono und Aochi, und später auch zwischen Nakasago und Aochis Ehefrau.

Wer die früheren Genre-Filme Suzukis voller Yakuza, Auftragskiller und Schießereien kennt, wird seinen Augen kaum trauen. Nach dem Rausschmiss bei Nikkatsu drehte Suzuki hier einen Film, der einen ständig im Unklaren lässt, der in voller Absicht mit seiner eigenen Künstlichkeit spielt, der sich mehr und mehr von einer linearen Handlung verabschiedet, den Zuschauer vor den Kopf stößt, und schließlich völlig abrupt endet. Selten bin ich mit so vielen Fragezeichen auf der Stirn aus einer Vorführung herausgekommen – und habe mich dabei doch vorzüglich unterhalten gefühlt.

Das dürfte zu einem guten Teil an der erstaunlichen Kreativität liegen, mit der Suzuki Handlungsfragmente zu einem bizarren Ganzen zusammenfügt, assoziativ zwischen Fragmenten springt und mit Stilelementen und Techniken überrascht. Auf der emotionalen Ebene werden permanent Treuebrüche, Eskapaden, Gewissensbisse, Misstrauen und Vertrautheit zwischen den Charakteren angedeutet und sofort wieder hinterfragt. Nichts ist verlässlich, nichts ist wie es scheint.

Zudem ist der Film von einem ständigen Hauch der Dekadenz durchzogen: Nakasago, der scheinbar ohne irgendwelche materiellen Abhängigkeiten durch die Lande streift und dabei einerseits alle seine Sinne zu befriedigen sucht, zugleich aber auch mit der Schwelle des Todes kokettiert und eine gewisse Morbidität ausstrahlt. Aochi, der mit seiner reichen Frau in luxuriösen Strandhäusern residiert. Die erotisch aufgeladenen Momente zwischen den beiden Ehepaaren tragen ebenfalls zu der besonderen Atmosphäre bei.

Zigeunerweisen basiert auf einem Roman von Hyakken Uchida, dem Autor und Deutschprofessor, dem Akira Kurosawa seinen letzten Film Madadayo gewidmet hatte. Der Filmtitel spielt auf die gleichnamige Komposition für Violine und Orchester des spanischen Komponisten Pablo de Sarasate an. Eine Schallplattenaufnahme dieses Stücks spielt im Film eine zentrale Rolle: Nakasago spielt seinem Freund Aochi die Aufnahme vor und weist ihn darauf hin, dass während der Aufnahme die Musiker einen kurzen Kommentar abgeben, dessen Inhalt die beiden aber nicht verstehen können. Am Ende des Films findet sich die Schallplatte plötzlich in Aochis Haus wieder, ohne dass der davon wusste.

Wie kaum einen anderen Film kann man Zigeunerweisen nach Lust und Laune interpretieren. Man kann an den Beziehungen der Akteure ansetzen, an Zeit und Gesellschaftsumständen des Japans der 1920er Jahre, bei den Elementen klassischer japanischer Geistergeschichten. Für mich ist es eine „Jekyll und Hyde“-Geschichte, die sich überwiegend in der Fantasie Aochis abspielt, der sich mit zunehmendem Verlauf des Films immer mehr in seiner Fantasiewelt verliert, bis er sich dem Rand des Wahnsinns nähert.

Zigeunerweisen wurde von Suzuki völlig unabhängig von einem Studio realisiert und fand zunächst keinen Verleih. Der Produzent Genjiro Arato ließ daraufhin den Film in einem speziell entwickelten mobilen Zelt aufführen – ein Überraschungserfolg. Er wurde 1981 in vier Kategorien mit den japanischen Academy Awards ausgezeichnet, darunter bester Film und beste Regie. Auch bei anderen Festivals und von dem renommierten Filmmagazin Kinema Junpo mit Preisen überschüttet und gilt als einer der besten japanischen Filme der 1980er Jahre. Sicherlich ist der Film nicht jedermanns Sache, aber wer Freude an ungewöhnlichen, anspruchsvollen Filmen hat, wird hier ein wahres Juwel finden. Bleibt nur zu hoffen, dass das Werk irgendwann auch bei uns auf DVD oder Bluray verfügbar wird.