Archive for the ‘Ichikawa Kon’ Category

Original: Taiheyō hitoribotchi (1963) von Kon Ichikawa

Basierend auf einer wahren Geschichte erzählt der Film die Geschichte des jungen Kenichi (Yujiro Ishihara), der von der Idee besessen ist, als erster Japaner allein in einem Segelboot den Pazifik zu überqueren. Der Film beginnt mit seiner heimlichen Abreise aus Osaka und zeigt uns in mehreren Flashbacks, wie er auf diese Reise hingearbeitet, ihr alles untergeordnet hatte:  Schuften um das Geld für das Boot und die Ausrüstung zusammenzubekommen, den Streit sich mit seinem strengen Vater (Masayuki Mori), die heimlichen Planungen bis ins kleinste Detail.

Kaum unterwegs, muss Kenichi die ersten Widrigkeiten überwinden. Zuerst kommt er wegen einer anhaltenden Flaute kaum aus dem Hafen von Osaka heraus, wenig später gerät er in einen Taifun, dann muss er einen großen Teil seiner Wasservorräte über Bord werfen, weil sie ungenießbar geworden sind. Doch mit unerschütterlichem Optimismus und einem an Naivität grenzenden Selbstvertrauen überwindet Kenichi alle Hindernisse und erreicht nach 94 Tagen auf hoher See schließlich San Francisco.

Screenshot 1 Alone across the Pacific

Natürlich enthält ein Film wie dieser einen gewissen Aspekt von „Mensch gegen Natur“, etwa wenn Kenichis kleines Segelboot von einem Taifun durchgeschüttelt wird oder wenn er nur knapp einem Hai entkommt. Auch die fast symbiotische Beziehung die sich dabei zwischen Mensch und Gefährt (das Boot heißt Mermaid) entwickelt, darf in Alone across the Pacific natürlich nicht fehlen. Ebensowenig wie grandiose Bilder des unendlichen Ozeans und dem sich darauf verlierenden kleinen Boot.

Doch die größere Spannung geht eigentlich fast von den wie zufällig eingestreuten Momenten aus, in denen der Alltag der Reise geschildert wird. Das langwierige Berechnen der Position anhand verschiedener Peilsignale. Das Zähneputzen. Das Warten, nur Unterbrochen von Selbstgesprächen. Das gespannte Lauschen auf die Wettervorhersage. Ich habe keine Ahnung wie Ichikawa es schafft, aber diese unspektakulären Momente wirken fast erhebend, so dass selbst die in allen Details gezeigten Handgriffe beim Zubereiten einer einfachen Mahlzeit aus Dosenfleisch Bewunderung hervorbringen.

Screenshot 5 Alone across the Pacific

Diese Inszenierung der Reise und ihrer Vorbereitung sowie der Hintergrund einer wahren Geschichte lassen Alone across the Pacific phasenweise fast wie eine Dokumentation erscheinen. Nicht nur das verbindet diesen Film mit dem ihm nachfolgenden Werk Ichikawas, dem Dokumentar-Epos Tokyo Olympiad. Beide Filme zelebrieren auch die Leistungsfähigkeit, Willenskraft und den Drang nach Selbstverwirklichung der Menschen.

Anders als in Tokyo Olympiad ist diese Begeisterung für das Individuum hier aber mit einer düsteren Seite verbunden. Die zeigt sich vor allem in den Flashbacks, in denen Kenichi sich nicht nur gegen seinen Vater und dessen Erwartungen auflehnt, sondern die ihn regelrecht als heimlichen Rebellen gegen ein ganzes System zeigen. Diese meist dunkel gehaltenen und von einer bedrückenden Enge gezeichneten Szenen kontrastieren auch von ihrer Stimmung her sehr stark mit denen auf offener See, in denen alles möglich scheint.

Screenshot 2 Alone across the Pacific

Rezensenten und Kritiker haben Kenichis Reise deshalb des öfteren als eine Flucht aus und vor Japan und seiner eigenen Identität als Japaner interpretiert. Brent Kliewer spricht in seinem Essay Escaping Japan gar von „Abscheu“ Kenichis gegenüber seinem Heimatland und verweist dazu unter anderem darauf, dass Kenichi die Reise ohne Pass antritt. Das sehe ich völlig anders, Kliewer macht es sich hier viel zu einfach, interpretiert den Film sehr einseitig aus einer die kollektivistisch-patriarchalischen Aspekte der japanischen Gesellschaft ablehnenden Haltung.

Ja, Kenichi „flieht“ aus Japan, das machen die in Flashbacks gezeigten Gespräche besonders mit seiner Mutter (gespielt von der grandiosen Kinuyo Tanaka) und die heimliche Abreise, bei der er sich im Dunkeln aus dem Hafen stiehlt, deutlich. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, es gibt auch mehrere Szenen, die ihn als stolz auf seine Herkunft, seine Sprache und seine japanische Identität zeigen: Die Gedenkminute anlässlich der Schlacht von Midway etwa oder die Begegnung mit einem amerikanischen Handelsschiff. Seinen japanischen Pass hatte er beantragt, doch sich dabei im Dickicht der Bürokratie verheddert.

Screenshot 3 Alone across the Pacific

Kliewer spricht auch davon, dass Kenichis Ziel San Francisco von Ichikawa wie ein „magisches Königreich“ inszeniert sei. Auch das sehe ich völlig anders, denn an die triumphale Durchfahrt der Golden Gate Bridge schließt sich eine Abfolge von stakkatoartig geschnittenen, klaustrophobisch anmutenden Bildern von gehetzten, anonymen Menschenmassen, hektischen Straßenfluchten und sogar von Alcatraz an. Auch die Begegnung mit der US-Küstenwache und einem Pulk aufdränglicher Journalisten wirkt vor allem bedrohlich. Diese Szenen reflektieren fast identische Bilder aus Osaka vom Anfang des Films und verdeutlichen, dass Kenichi sich auf beiden Seiten des Pazifiks, am Ausgangspunkt wie am Ziel seiner Reise, gesellschaftlichen Zwängen, Abhängigkeiten und verständnislosen Menschen gegenübersieht.

Hier liegt meiner Ansicht nach der eigentliche Knackpunkt des Films: Ichikawa konstruiert und inszeniert zwar durchaus einen Gegensatz mit Alone across the Pacific. Dieser basiert aber weder auf der Dichotomie von Mensch vs. Natur noch der von freiheitlich-aufgeschlossenes Amerika vs. patriarchalisch-einzwängendes Japan. Vielmehr ist es der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft generell, der hier thematisiert wird.

Screenshot 4 Alone across the Pacific

Kenichi kann seine Individualität, sein Streben nach Selbstverwirklichung, seine Besessenheit, seinen Kampf mit sich selbst nur allein auf dem Pazifik ausleben. Die Ankunft am Ziel in San Francisco und damit der Moment seines Triumphs bedeutet zugleich auch, dass er sich erneut gesellschaftlichen Zwängen, Institutionen und Bürokratie unterordnen muss und von allen Seiten Erwartungen und Ansprüche an ihn herangetragen werden.

Diesen Zwänge zu entfliehen und Frieden mit sich selbst zu finden, das ist das eigentliche Ziel von Kenichis Reise. Für 94 Tage erreicht er diesen Zustand, dann hat ihn die Gesellschaft auf der anderen Seite des Pazifiks wieder. Dort kann er ihr nur noch temporär entkommen, nämlich im glückselig machenden Schlaf, wie die geniale Schlusszene zeigt.

Screenshot 6 Alone across the Pacific

Was Regisseur Ichikawa, seine Frau und Drehbuchautorin Natto Wada und Kameramann Yoshihiro Yamazaki aus der simplen Story des Ozeanüberquerers gemacht haben, ist hochgradig beeindruckend! Alone across the Pacific ist viel mehr als einfach nur ein Abenteuerfilm, viel mehr als die Geschichte eines jungen Mannes der sich einen Traum erfüllt. Dieser Film zeigt auf, wie wir Menschen und die Notwendigkeit des Zusammenlebens mit Menschen, uns selbst die größten Schranken auferlegen und greift damit Themen auf, die sich zuvor schon in mehreren, sehr viel düstereren und pessimistischeren Filmen Kon Ichikawas finden. Hier verbindet er sie allerdings mit einer befreienden, jubilierenden Hymne auf das Menschsein. Unbedingt zu empfehlen!

Kokoro

Original: Kokoro (1955) von Kon Ichikawa

Im Sommer 1912 freundet sich der Student Hioko (Shōji Yasui) mit dem älteren, zurückgezogen lebenden Intellektuellen Nobuchi (Masayuki Mori) an, den er einfach nur Sensei nennt. Es dauert nicht lange, da wird Hioki bewusst, dass ein dunkler Schatten auf der Vergangenheit seines Sensei liegt, der Sensei regelrecht von innen auffrisst und ihn immer zynischer und abweisender werden lässt. Das belastet natürlich auch dessen Ehe und seine Frau Shizu (Michiyo Aratama), die sich schwere Vorwürfe macht, letztlich aber selbst genauso im Dunkeln tappt wie Hioko.

Als Hiokos Vater schwer erkrankt, reist er für einige Zeit nach Hause zu seiner Familie. Kurze Zeit nach seiner Ankunft stirbt der Kaiser Meiji, Trauer senkt sich über das ganze Land. Einige Generäle folgen dem Kaiser sogar in den Tod und begehen Selbstmord. Eines Tages erhält Hioko einen dicken Brief seines Sensei, in dem dieser seine Lebensgeschichte berichtet. Es stellt sich heraus, dass Nobuchi als Student von seinen eigenen Verwandten um sein Erbe betrogen wurde und später die Frau heiratete, in die sein bester Freund Kaji (Tatsuya Mihashi) verliebt war – worauf Kaji Selbstmord beging. Nobuchis Brief schließt mit der Ankündigung, ebenfalls dem Kaiser in den Tod folgen zu wollen.

Kokoro Screenshot 1

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Natsume Sōseki, der 1914, also kurz nach dem tatsächlichen Tod des Kaisers, erschien. Ich habe hier zum ersten Mal einen japanischen Film gesichtet, dessen literarische Vorlage ich bereits kannte, was meine Wahrnehmung und Beurteilung des Films doch erheblich beeinflusst hat. Deshalb möchte ich auch als erstes mit dem Vergleich von Buch und Film loslegen.

In vieler Hinsicht ist Kokoro (was hier übrigens so viel wie „Der Kern der Dinge“ bedeutet) eine ziemlich getreue Adaption des berühmten Romans. Viele Szenen und auch Dialoge aus dem Buch finden sich fast exakt im Film wieder. Dem Film ist jedoch das Bemühen anzusehen, die starre Struktur des Buchs, dessen dritter Teil allein aus dem langen Brief Nobuchis besteht, aufzubrechen und so die Story ansprechender und mitreißender zu gestalten. Dabei werden zwei größere Abschnitte ausgespart bzw. stark gerafft: Zum einen, wie sich Hioki und Nobuchi kennenlernten (das Buch beginnt mit ihrer ersten Begegnung an einem Strand, im Film taucht diese Szene kurz als Flashback auf) und zum anderen, wie Nobuchi während des Studiums seine spätere Frau kennenlernte. Und diese letzte Änderung hat meiner Ansicht nach gravierenden Einfluss auf die Wirkung der von Nobuchi in seinem Brief geschilderten Ereignisse und damit auch auf die Wahrnehmung seines Charakters und auf die zentralen Fragen, die Buch und Film aufwerfen.

Kokoro Screenshot 5

Im Buch enthält Nobuchis Brief nämlich eine lange und eindringliche Schilderung, wie er sich in Shizu verliebte und wie sehr er unter seiner Schüchternheit litt, die ihn dazu verdammte, seine Gefühle für sich zu behalten. Umso größer dann Nobuchis Schock, als  sein Freund Kaji ihm seine Liebe zu Shizu gesteht. Im Film wird dagegen nur vage angedeutet, dass Nobuchi Gefühle für Shizu haben könnte. Als er angesichts von Kajis überraschendem Geständnis regelrecht in Panik verfällt und zunächst dem streng religiösen Kaji seine Gefühle auszureden versucht und gleichzeitig um Shizus Hand anhält, hat dies im Film – ohne die Vorgeschichte – nun eine ganz andere Wirkung als im Buch.

Im Buch wird nämlich mehrfach herausgestrichen, dass es seine Liebe zu Shizu war, die ihn zu diesen Handlungen getrieben hat. Somit wird sein Verrat an Kaji gewissermaßen zum Sündenfall der eigentlich so reinen, hehren Liebe und bekommt damit eine ganz neue Dimension: Wenn selbst Liebe den Menschen zu solchen Taten befähigt, was ist dann überhaupt noch Gutes am Menschen? Diese Dimension fehlt dem Film.

Kokoro Screenshot 3

Dafür öffnet die Straffung der Geschichte im Film die Freundschaften Nobuchis zu Hioko und besonders zu Kaji für eine homosexuelle Ebene. Mir selbst hat sich beim Sehen des Films diese Interpretation zwar nicht aufgedrängt, aber wenn man – wie einige Kritiker – darüber nachdenkt, kann man zahlreiche Anhaltspunkte für diese Sicht im Film finden. Dies lässt die Selbstzweifel und -kritik Nobuchis in einem völlig anderen Licht erscheinen, denn nun wird Nobuchi in seinen Konflikt gerissen, weil er keine Möglichkeit sieht, seine Homosexualität einzugestehen und offen zu leben. Die Wurzel der Niedertracht liegt somit in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn zum Leben einer Lüge zwingen, und weniger im Wesen des Menschen an sich begründet.

Welcher Sichtweise man sich auch anschließt, eines dürfte klar sein: Kokoro ist ein sehr philosophischer und schwermütiger Film, ein ziemlicher Stimmungskiller. Kein Film, den man sich popcornfutternd mit Freunden anschauen will. Er ist aber auch ein großartiger Film, was nicht zuletzt an der genialen Literaturvorlage liegt. Aber auch unabhängig davon ist der Film ein eigenständiges Kunstwerk. Sei es die durch eine relativ unscheinbare Straffung der Handlung hinzugefügte Möglichkeit der Homosexualität, die den Film für eine ganz neue Botschaft öffnet. Sei es die Neustrukturierung und Auflockerung der Erzählung, die das Problem des endlos langen Briefes sehr schön löst.

Kokoro Screenshot 4

Vor allem Masayuki Mori und Michiyo Aratama sind es aber, die dem Film Leben einhauchen und unendlich nuanciert und einfühlsam die vielen angedeuteten ebenso wie die offen zutage tretenden Konflikte und Emotionen darstellen. Man mag zwar dem über 40jährigen Mori auch als junger Student sein Alter ansehen, aber die Verwandlung des jungen und unbeschwerten Nobuchi in den von Schuld und Selbstzweifeln gebeugten Sensei spielt er fantastisch. Noch mehr überzeugt hat mich aber Michiyo Aratama, die ich nur aus weniger bedeutenden Rollen kannte und die sowohl als junges Mädchen wie als treusorgende, vorbildliche und dennoch frustrierte Ehefrau eine schlicht grandiose Vorstellung abliefert.

Absolut angemessen und einfühlsam ist auch die zurückhaltende Regie Ichikawas, der vor allem seine Schauspieler den Film tragen lässt, und dennoch mit einigen wenigen Bildern die Konflikte und Gefühle seiner Darsteller unterstreicht. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in einer Szene, in der Nobuchi bei strömendem Regen zu seiner großen Überraschung Kaji und Shizu begegnet. Die aufflackernde Rivalität, die Eifersucht und Ungewissheit, was diese Begegnung zu bedeuten hat, lässt sich wunderbar an den Gesichtern ablesen. Doch die größeren Konsequenzen veranschaulicht Ichikawa mit einem Bild: Damit die beiden in der überschwemmten Straße passieren können, macht Nobuchi einen Schritt von den ausgelegten Planken in den Matsch der Straße. Sein Fuß versinkt fast in Schlamm und Dreck, so wie auch er, seine Seele und sein Gewissen, im Dreck versinken werden durch sein Abweichen vom „rechten Weg“.

Kokoro Screenshot 6

Ist der Mensch in seiner Natur schlecht und bringt selbst die reinste Liebe nur Egoismus und Eifersucht in ihm hervor? Oder ist die Umwelt schlecht und bringt den Menschen dazu, selbstsüchtig zu handeln? Egal wie man diese uralte Frage persönlich sieht, Kokoro als Film wie als Buch beleuchten sie auf eindrückliche Art und interessanterweise aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, trotz nur minimaler Änderungen an der literarischen Vorlage. Dass der Film dennoch ganz andere Interpretationsansätze erlaubt, spricht klar für seine Qualität. Kokoro wird zu Unrecht oft übersehen neben andereren, bekannteren Werken Kon Ichikawas.

Original: Tokyo orimpikku (1965) von Kon Ichikawa

Kurz nach Beginn des Einmarsches der Athleten ins Olympiastadion gibt es zwei besonders herausgehobene Momente: Der Auftritt der Delegationen aus Camerun und dem Congo, die zum ersten Mal nach der Befreiung aus der europäischen Kolonialherrschaft an Olympischen Spielen teilnehmen; und die vereinte deutsche Mannschaft, bestehend aus Athleten der DDR und der BRD, die gemeinsam an diesen Spielen des Friedens teilnehmen. Dieser völkerverbindende, friedliche Geist prägt Kon Ichikawas dreistündigen Dokumentar-Epos über die Olympischen Spiele in Tokyo 1964, weshalb er auch so wunderbar zu diesem 20. Jahrestag des Mauerfalls passt.

Als Fest der Menschen und der Völker will Ichikawa seinen Film ganz offensichtlich verstanden wissen, die Ankunft der Athleten schon am Flughafen wird in vielen dynamisch geschnittenen Einstellungen festgehalten, unterstrichen von einem euphorischen Kommentator, der ein bisschen wie ein guter alter Radioreporter klingt. Diese Stimmung zieht sich durch den ganzen Film, von der Eröffnungszeremonie, über eine kurze Episode in der Kantine des olympischen Dorfs bis zur Abschlussfeier.

Neben Internationalität und Völkerverständigung stellt Tokyo Olympiad noch ein weiteres, zentrales Motto der Spiele in den Mittelpunkt: Dabei sein ist alles. Anders als in Sportdokumentationen (und in Sportfilmen sowieso) meist üblich, lernen wir nicht nur die Sieger kennen, denn alle Athleten verdienen gleichermaßen unsere Anerkennug und unsere Bewunderung. So auch der gestürzte Radfahrer, der irische Marathonläufer, der am Rand der Strecke zusammensackt oder die unbekannte Sportgymnastin, denen genausoviel oder sogar mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als Don Schollander, der vier Goldmedaillen gewann.

Exemplarisch für dieses Bestreben Ichikawas, die olympischen Spiele vor allem als eine friedliche Begegnung der Menschen aus aller Welt darzustellen, bei der jeder sein Bestes gibt, steht der junge Sprinter Isa aus dem Tschad, ebenfalls eine gerade erst aus der Kolonialisierung entlassene Nation. Er ist der einzige Athlet, dessen Geschichte in einer kurzen Episode aus einer persönlichen Perspektive erzählt wird und durch dessen Augen wir einen Blick auf die Spiele werfen. Aber dann zieht die Kamera auch schon weiter, die Schwimmwettbewerbe stehen schließlich an und Judo und Volleyball und und und…

Das Volleyballfinale der Damen zwischen der Sowjetunion und Japan ist sicherlich einer der Höhepunkte des Films. Die kurze Zusammenfassung des Matches hat alles zu bieten, was Sportberichterstattung ausmacht: Spannung, atemberaubende Zeitlupen, Dynamik, kleine Heldentaten und natürlich Tränen der Freude und der Enttäuschung, als die Japanerinnen den sechsten Matchball endlich verwandeln.

Weitere herausragende Momente aus sportlicher Sicht wären das Radrennen, der Stabhochsprung, das Judomatch bei dem der japanische Weltmeister (und Favorit) spektakulär vom Belgier Geesink besiegt wird und – natürlich – das 100-Meter-Finale der Männer, das Ichikawa in einer brillanten Zeitlupensequenz einfängt. Das große Finale des Films in sportlicher wie spiritueller Hinsicht ist aber der Marathonlauf, der fast 25 Minuten einnimmt und regelrecht einen Film im Film darstellt.

Mittels Hubschrauberflug über die Hochautobahn quer durch Tokyo, die für den Marathon gesperrt wurde, werden wir an die Herausforderung herangeführt, beim Start werden uns einige der Protagonisten vorgestellt. Dann beginnt das Spektakel, das innerhalb weniger Minuten eine ganze Reihe menschlicher Dramen und Triumphe schildert: Der bereits erwähnte, am Streckenrand zusammengebrochene Läufer, ein Läufer der barfuß (!) unterwegs ist, die ersten Erfrischungsstopps und dann der Triumphlauf Abebe Bikilas aus Äthiopien, der nach Rom zum zweiten Mal die Goldmedaille gewinnt und dabei zugleich seinen eigenen Weltrekord verbesserte. In einer minutenlangen Sequenz sehen wir nur ihn, ganz allein auf der Strecke vor dem Hintergrund des grauen Asphalts, wie er in Zeitlupe einen Kampf mit sich selbst austrägt. Und siegt.

So abwechslungsreich wie die sportlichen Höhepunkte des Films sind auch die cineastischen Mittel, die Ichikawa einsetzt. Es finden sich viele Bilder, die für eine Sportdokumentation erstaunlich minimalistisch sind, wie etwa die Screenshots oben vom Marathonlauf und der Gymnastik zeigen. Diese durchbrechen immer wieder die bunten, dynamisch und schnell geschnittenen, „actionhaltigen“ Szenen der Wettkämpfe und sorgen für regelrecht meditative Momente.

Großaufnahmen einzelner Athleten stehen Massenszenen gegenüber, und auch Soundeffekte werden stark benutzt, besonders während der Zeitlupen. So sind etwa während eines Hürdenlaufs überhaupt keine Geräusche zu hören, außer dem Umstürzen einer Hürde, das fast wie ein verzweifelter Schrei klingt.

Kon Ichikawa, damals einer der renommiertesten Regisseure Japans, stand für die Dokumentation der Spiele ein Heer von fast 600 Mitarbeitern, darunter allein 16 Kameramänner, zur Verfügung. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit war das Organisationskomitee der Spiele aber äußerst unzufrieden.

Donald Richie berichtet, dass Ichikawas ursprüngliche Fassung stark überarbeitet wurde, in der noch viel mehr als im endgültigen Film der einfache Mensch in den Mittelpunkt gestellt wurde. So soll Ichikawa für das Ende des Films eine Szene vorgesehen gehabt haben, in der ein Mann mit einer Leiter auf der Schulter durch das leere Stadion geht, das Lachen von spielenden Kindern im Hintergrund. Allein bei dem Gedanken bekomme ich Gänsehaut! Was ein Jammer, dass er seine Vision nicht umsetzen konnte und Kompromisse gegenüber dem Komitee eingehen musste.

Aber auch ohne dieses Ende und mit der etwas „monumentalisierteren“ Version, die letztlich veröffentlicht wurde, stellt Tokyo Olympiad einen Meilenstein des Sportdokumentationsfilms dar. Zahllose Elemente und Techniken, die Ichikawa vor 45 Jahren anwandte, gehören heute zum Standard jeder Berichterstattung von einem sportlichen Großevent. Mit einem Blick auf die letzten Olympischen Spiele wäre zu wünschen, dass nicht nur die Technik sondern auch der Geist seines Werkes, das kompromisslos den Menschen in den Mittelpunkt stellt und um verherrlichende, großkotzige Inszenierungen einen weiten Bogen macht, noch Einfluss bis in die Gegenwart hätte.