Original: Tokyo orimpikku (1965) von Kon Ichikawa

Kurz nach Beginn des Einmarsches der Athleten ins Olympiastadion gibt es zwei besonders herausgehobene Momente: Der Auftritt der Delegationen aus Camerun und dem Congo, die zum ersten Mal nach der Befreiung aus der europäischen Kolonialherrschaft an Olympischen Spielen teilnehmen; und die vereinte deutsche Mannschaft, bestehend aus Athleten der DDR und der BRD, die gemeinsam an diesen Spielen des Friedens teilnehmen. Dieser völkerverbindende, friedliche Geist prägt Kon Ichikawas dreistündigen Dokumentar-Epos über die Olympischen Spiele in Tokyo 1964, weshalb er auch so wunderbar zu diesem 20. Jahrestag des Mauerfalls passt.

Als Fest der Menschen und der Völker will Ichikawa seinen Film ganz offensichtlich verstanden wissen, die Ankunft der Athleten schon am Flughafen wird in vielen dynamisch geschnittenen Einstellungen festgehalten, unterstrichen von einem euphorischen Kommentator, der ein bisschen wie ein guter alter Radioreporter klingt. Diese Stimmung zieht sich durch den ganzen Film, von der Eröffnungszeremonie, über eine kurze Episode in der Kantine des olympischen Dorfs bis zur Abschlussfeier.

Neben Internationalität und Völkerverständigung stellt Tokyo Olympiad noch ein weiteres, zentrales Motto der Spiele in den Mittelpunkt: Dabei sein ist alles. Anders als in Sportdokumentationen (und in Sportfilmen sowieso) meist üblich, lernen wir nicht nur die Sieger kennen, denn alle Athleten verdienen gleichermaßen unsere Anerkennug und unsere Bewunderung. So auch der gestürzte Radfahrer, der irische Marathonläufer, der am Rand der Strecke zusammensackt oder die unbekannte Sportgymnastin, denen genausoviel oder sogar mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als Don Schollander, der vier Goldmedaillen gewann.

Exemplarisch für dieses Bestreben Ichikawas, die olympischen Spiele vor allem als eine friedliche Begegnung der Menschen aus aller Welt darzustellen, bei der jeder sein Bestes gibt, steht der junge Sprinter Isa aus dem Tschad, ebenfalls eine gerade erst aus der Kolonialisierung entlassene Nation. Er ist der einzige Athlet, dessen Geschichte in einer kurzen Episode aus einer persönlichen Perspektive erzählt wird und durch dessen Augen wir einen Blick auf die Spiele werfen. Aber dann zieht die Kamera auch schon weiter, die Schwimmwettbewerbe stehen schließlich an und Judo und Volleyball und und und…

Das Volleyballfinale der Damen zwischen der Sowjetunion und Japan ist sicherlich einer der Höhepunkte des Films. Die kurze Zusammenfassung des Matches hat alles zu bieten, was Sportberichterstattung ausmacht: Spannung, atemberaubende Zeitlupen, Dynamik, kleine Heldentaten und natürlich Tränen der Freude und der Enttäuschung, als die Japanerinnen den sechsten Matchball endlich verwandeln.

Weitere herausragende Momente aus sportlicher Sicht wären das Radrennen, der Stabhochsprung, das Judomatch bei dem der japanische Weltmeister (und Favorit) spektakulär vom Belgier Geesink besiegt wird und – natürlich – das 100-Meter-Finale der Männer, das Ichikawa in einer brillanten Zeitlupensequenz einfängt. Das große Finale des Films in sportlicher wie spiritueller Hinsicht ist aber der Marathonlauf, der fast 25 Minuten einnimmt und regelrecht einen Film im Film darstellt.

Mittels Hubschrauberflug über die Hochautobahn quer durch Tokyo, die für den Marathon gesperrt wurde, werden wir an die Herausforderung herangeführt, beim Start werden uns einige der Protagonisten vorgestellt. Dann beginnt das Spektakel, das innerhalb weniger Minuten eine ganze Reihe menschlicher Dramen und Triumphe schildert: Der bereits erwähnte, am Streckenrand zusammengebrochene Läufer, ein Läufer der barfuß (!) unterwegs ist, die ersten Erfrischungsstopps und dann der Triumphlauf Abebe Bikilas aus Äthiopien, der nach Rom zum zweiten Mal die Goldmedaille gewinnt und dabei zugleich seinen eigenen Weltrekord verbesserte. In einer minutenlangen Sequenz sehen wir nur ihn, ganz allein auf der Strecke vor dem Hintergrund des grauen Asphalts, wie er in Zeitlupe einen Kampf mit sich selbst austrägt. Und siegt.

So abwechslungsreich wie die sportlichen Höhepunkte des Films sind auch die cineastischen Mittel, die Ichikawa einsetzt. Es finden sich viele Bilder, die für eine Sportdokumentation erstaunlich minimalistisch sind, wie etwa die Screenshots oben vom Marathonlauf und der Gymnastik zeigen. Diese durchbrechen immer wieder die bunten, dynamisch und schnell geschnittenen, „actionhaltigen“ Szenen der Wettkämpfe und sorgen für regelrecht meditative Momente.

Großaufnahmen einzelner Athleten stehen Massenszenen gegenüber, und auch Soundeffekte werden stark benutzt, besonders während der Zeitlupen. So sind etwa während eines Hürdenlaufs überhaupt keine Geräusche zu hören, außer dem Umstürzen einer Hürde, das fast wie ein verzweifelter Schrei klingt.

Kon Ichikawa, damals einer der renommiertesten Regisseure Japans, stand für die Dokumentation der Spiele ein Heer von fast 600 Mitarbeitern, darunter allein 16 Kameramänner, zur Verfügung. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit war das Organisationskomitee der Spiele aber äußerst unzufrieden.

Donald Richie berichtet, dass Ichikawas ursprüngliche Fassung stark überarbeitet wurde, in der noch viel mehr als im endgültigen Film der einfache Mensch in den Mittelpunkt gestellt wurde. So soll Ichikawa für das Ende des Films eine Szene vorgesehen gehabt haben, in der ein Mann mit einer Leiter auf der Schulter durch das leere Stadion geht, das Lachen von spielenden Kindern im Hintergrund. Allein bei dem Gedanken bekomme ich Gänsehaut! Was ein Jammer, dass er seine Vision nicht umsetzen konnte und Kompromisse gegenüber dem Komitee eingehen musste.

Aber auch ohne dieses Ende und mit der etwas „monumentalisierteren“ Version, die letztlich veröffentlicht wurde, stellt Tokyo Olympiad einen Meilenstein des Sportdokumentationsfilms dar. Zahllose Elemente und Techniken, die Ichikawa vor 45 Jahren anwandte, gehören heute zum Standard jeder Berichterstattung von einem sportlichen Großevent. Mit einem Blick auf die letzten Olympischen Spiele wäre zu wünschen, dass nicht nur die Technik sondern auch der Geist seines Werkes, das kompromisslos den Menschen in den Mittelpunkt stellt und um verherrlichende, großkotzige Inszenierungen einen weiten Bogen macht, noch Einfluss bis in die Gegenwart hätte.