Original: Dodesuka-den (1970) von Akira Kurosawa
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bewohnern eines Slums am Rande Tokyos kämpft um das Überleben im Alltag, darunter auch Rokku-chan, ein geistig zurückgebliebener Junge, der in der Illusion lebt, Straßenbahnführer zu sein. Jeden Morgen fährt er seine nicht-existente, dafür aber innig geliebte Bahn – sie ist schon ein etwas älteres Modell und die Wartungsmannschaften lassen sie manchmal links liegen – mit weithin hörbarem „dodeskadendodeskadendodeskaden“-Geratter durch die Müllberge.
Auf seiner Runde begegnen ihm die Familie Sawagami, deren Kinder alle von verschiedenen Männern stammen weil die Mutter eine hochnäsige Schlampe ist, was den Vater aber nicht davon abhält, jedes einzelne aus tiefstem Herzen zu lieben. Oder die befreundeten Ehepaare Masuda und Kawaguchi, die sich im Suff schon mal in der Haustür und im Partner für die Nacht irren, was ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch tut.
Weitere Charaktere wären der Bettler, der nur seinen Tagträumen von einem bombastischen Haus nachhängt, während sein kleiner Sohn sich um ihr Überleben kümmert und betteln geht. Oder der einsame, zurückgezogen lebende Mann, dessen eisiges Schweigen ein tiefes, schreckliches Geheimnis zu verbergen scheint, das allen Nachbarn Rätsel aufgibt. Oder das Mädchen Katsuko, das bei seiner Tante lebt und für deren Mann nicht nur Tag und Nacht schuften muss, sondern auch noch von ihm missbraucht wird.
So hat jeder der Slumbewohner sein Päckchen zu schultern, und jeder hat seine Art, damit umzugehen. Für manche ist das Mittel der Alkohol, andere denken an Selbstmord oder geben sich Träumereien hin wie der Bettler. Manche Schicksale sind zum Herzzerreißen wie das von Katsuko, die in ihrer Verzweiflung und Einsamkeit alles in sich hineinfrisst und am Ende den einzigen Menschen, der ihr etwas bedeutet, in einer hysterischen Attacke umzubringen versucht.
Andere wie die beiden dauerbetrunkenen Kumpels sind in ihrer drolligen Tolpatschigkeit einfach lustig. Wieder andere, wie der gehbehinderte und von epileptischen Anfällen geplagte kleine Angestellte, der dennoch immer gut gelaunt und stets hilfsbereit ist, lassen den Zuschauer dann die Niederträchtigkeit und das Elend vergessen und wieder an das Gute im Menschen glauben.
So zeigt der Film einen nahezu zeitlosen Ausschnitt dessen, was Menschsein und menschliches Zusammenleben ausmacht, allerdings mit einem Schwerpunkt eher auf den Tiefen als den Höhen. Die Menschen in Dodeskaden sind tagtäglich mit dem Kampf ums Überleben und um die Wahrung ihrer Menschenwürde konfrontiert und gehen mit dieser Herausforderung völlig unterschiedlich um. Doch der Film bleibt dabei immer in einer bitter-süßen, humoristisch-leichten Stimmung verhaftet, die Kurosawa sehr wichtig war: „Hätte ich diesen Film ganz ernst gedreht, wäre er unerträglich depressiv geworden.“
Diese Stimmung wird zu einem guten Teil mit getragen von den manchmal geradezu aggressiven, unglaublich lebendigen Farben in Kurosawas erstem Farbfilm. Anders als seine prominenten Vorgänger Ozu oder Mizoguchi, die in ihren Farbfilm-Debuts eher zurückhaltend-realistisch und wenig innovativ mit der neuen Technik umgegangen waren, lässt Kurosawa es richtig knallen. Seine Wurzeln in der Malerei werden an vielen Stellen deutlich, nicht zuletzt in der finalen Szene in Rokku-chans über und über mit kindlichen Bildern seiner Straßenbahn behängten Hütte.
Diese beeindruckend farbenfrohen und wunderschön anzusehenden Bilder tragen den Film über weite Strecken, denn eine echte Handlung gibt es nicht und die Charaktere der einzelnen Episoden sind durch nichts – abgesehen von ihrer räumlichen Nähe – miteinander verbunden. So fehlt dem Film auch ein für Spannung sorgender Konflikt, geschweige denn ein Held oder eine sonstige Identifikationsfigur.
Das unterscheidet Dodesukaden denn auch von den thematisch ähnlich gelagerten früheren Filmen Kurosawas, wie Ein wunderschöner Sonntag, Nachtasyl oder Rotbart. Besonders die Parallelen zu Nachtasyl sind an vielen Stellen in der Anlage und Konstellation der Charaktere zu erkennen, ohne dass Dodesukaden dadurch aber an die – wenn auch negative – Kraft, Eindringlichkeit und Leidenschaft des Vorläufers anknüpfen könnte. Vielmehr plätschert der Film über weite Strecken einfach so dahin.
Dodesukaden war nicht nur Kurosawas erster Farbfilm, es war zugleich auch der erste und einzige Film, der vom „Club der vier Ritter“ realisiert wurde, einem Studio, das Kurosawa zusammen mit Keisuke Kinoshita, Masaki Kobayashi und Kon Ichikawa gegründet hatte. Nach Dodesukaden war das Studio denn auch sogleich pleite, weil der farbenfrohe Film beim Publikum durchfiel. Man geht allgemein davon aus, dass diese Enttäuschung und die schwierige Suche nach einem Anschlussprojekt einen erheblichen Anteil an Kurosawas Selbstmordversuch im darauf folgenden Jahr hatten.
Für Kurosawa-Enthusiasten ist Dodeskaden – Menschen im Abseits ein absolutes Must-see, nicht zuletzt wegen der Farbexperimente und der wichtigen Rolle als Bindeglied zwischen den zutiefst humanistisch-optimistischen schwarz-weiß Filmen und den späteren berühmten, an der Menschheit verzweifelnden Schlachtengemälden von Kagemusha und Ran. Und auch wer sich gerne mal ein filmgewordenes expressionistisches Experiment ansehen möchte, wird an diesem Film seine Freude haben.
Dieser Frage geht Hiroshi Tasogawas Buch „All the Emperor’s Men“ nach, und beleuchtet damit einen der spannendsten und mysteriösesten Abschnitte in Leben und Werk des großen Akira Kurosawa. Der sollte die japanischen Szenen im von 20th Century Fox produzierten Film über den Angriff auf Pearl Harbor drehen, eine internationale Zusammenarbeit die für großes Aufsehen und entsprechende Erwartungen sorgte. Doch nach einem guten Jahr wurde Kurosawa von Fox gefeuert, Kinji Fukasaku und Toshio Masuda übernahmen stattdessen die Regie. Was zu diesem unrühmlichen Ende der einst so gefeierten Zusammenarbeit führte, war in den letzten Jahrzehnten steter Anlass für Spekulationen, denen jetzt erstmals fundierte Recherche, Fakten und Interviews entgegen gestellt werden.
Autor Tasogawa war selbst an den Dreharbeiten beteiligt als Übersetzer für Kurosawa und arbeitete später als Journalist. Ideale Voraussetzungen für einen tiefen Einblick in die Hintergründe und eine anspruchsvolle, neutrale Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Phase für Kurosawa. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, kann also kein eigenes Urteil abgeben. Diese Rezension vom sehr geschätzten Vili Maunula verspricht aber ein großes und wichtiges Werk, siehe das Fazit:
All the Emperor€™s Men is an extremely well written book, which is a joy to read and very difficult to put down. It is thoroughly researched and sets out to give out all the available facts, with Tasogawa€™s ability to juggle the minute details and put them into a coherent narrative nothing short of impressive. More impressive still is that the book does not force feed the reader any specific interpretation about what or who actually went wrong. Instead, it shows that a number of factors were at play with Kurosawa€™s failure to complete the Tora! Tora! Tora! project.
Ich werde mir „All the Emperor’s Men“ auf jeden Fall anschaffen und dann meine Meinung zum Besten geben. Wer bis dahin nicht warten mag, kann inzwischen schon mal selbst bei Amazon zugreifen, das Buch in der gebundenen englischen Fassung kostet 24,99 Euro.
6 Nov
Original: Shinkansen daibakuha (1975) von Junya Sato
Als der Hikari-190 Hochgeschwindigkeitszug in Tokyo mit mehr als 1000 Passagieren abfährt, ahnt noch niemand, dass sich an Bord eine Bombe befindet. Und die ersten Reaktionen der Verantwortlichen auf die Bombendrohung sind gelassen: Schon wieder? Gut, wir halten den Zug an und durchsuchen ihn. Doch der clevere Plan der Bombenleger um ihren Anführer Okita (Ken Takakura) hat das einkalkuliert, ihre Bombe explodiert, sobald der Zug die Geschwindigkeit von 80 km/h unterschreitet!
Während die Bahnchefs zusammen mit dem Zugführer Aoki (Sonny Chiba) die Strecke freiräumen und um jede Minute ringen, bricht unter den Passagieren langsam Unruhe aus: Warum fährt der Zug so langsam? Und warum hält er nicht in Nagoya? Parallel macht sich die Polizei auf die Suche nach den Bombenlegern und nimmt Kontakt mit dem Erpresser auf. Als eine erste Übergabe des geforderten Geldes scheitert und dabei einer der Bombenleger getötet wird, beginnen auch die Verantwortlichen bei der Bahn die Nerven zu verlieren. Nur einer bleibt ganz cool und greift auf Plan B zurück: Okita selbst, denn er hat nichts mehr zu verlieren.
Etwas ganz erstaunliches passiert an dieser Stelle mit dem Film: Er wendet sich von der – ganz den Konventionen des Katastrophen-Genres inklusive hysterischer schwangerer Frau entsprechenden – Handlung um den dahinrasenden Shinkansen ab und der Geschichte Okitas zu. In zahlreichen Flashbacks erfahren wir, dass sein Leben durch den Bankrott seiner Firma und die anschließende Scheidung seiner Frau aus der Bahn geworfen und jeglichen Sinns beraubt wurde. Wie er daraufhin mit zwei Freunden, einem gescheiterten linken Möchtegern-Revolutionär und einem arbeitslosen Jugendlichen, den Plan bis ins kleinste Detail ausheckt. Und wie er nun mit ansehen muss, wie die Polizei sich auf ihre Fährte setzt und einen nach dem anderen zur Strecke bringt.
Durch diese Wendung des Films verlagern sich auch die Sympathien immer mehr in Richtung Okita und seinem Team aus Underdogs und Verlierern vom Rand der Gesellschaft. Dazu trägt auch die Darstellung der Polizei bei, die gemachte Zusagen ignoriert, buchstäblich über Leichen geht und sich bei ihrer Jagd nach den Verbrechern auch nicht allzu sehr um das Schicksal der Passagiere an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges zu kümmern scheint.
Nicht viel besser kommen die Verantwortlichen bei der Bahn und die eingeschalteten Politiker weg, denen es vor allem darum geht, ihr Gesicht zu wahren. Zwischen raffinierten, spannend inszenierten Geldübergaben, Verfolgungsjagden und Versteckspiel mit der Polizei verschwimmen so nach und nach die Grenzen zwischen gut und böse und verkehren sich in das Gegenteil des erwarteten, allgemein üblichen Schemas. Ein Aspekt, mit dem mich The Bullet Train sehr positive überraschte und der ihn aus der Masse der Katastrophenfilme weit heraushebt.
Wobei der Film in Ken Takakura natürlich auch einen großartigen Hauptdarsteller zu bieten hat. Kaum jemand kann so wie er den grüblerischen, von der Welt und den Menschen enttäuschten und verlassenen einsamen Wolf geben, der langsam aber sicher immer weiter in die Enge getrieben wird. Sonny Chiba, der groß angekündigt wird, spielt dagegen nur eine Nebenrolle.
Die Kamera ist viel in Bewegung und ganz nah an den Akteuren dran, bis hin zu extremen Nahaufnahmen wie man sie besonders aus den Italo-Western kennt. Diese Realitätsnähe scheint zu den Markenzeichen von Regisseur Junya Sato gehört zu haben, der ähnlich wie Kinji Fukasaku mit knallharten und „systemkritischen“ Yakuza-Filmen bekannt wurde, was ich mir angesichts der Ausrichtung von The Bullet Train sehr gut vorstellen kann. In den 70er Jahren gehörte er dann zu den kommerziell erfolgreichsten Filmemachern seines Landes, besonders in der Zusammenarbeit mit seinem Star Takakura.
Auch stilistisch bietet der Film deutlich mehr als nur dröge Action-Alltagskost. Frosch- und Vogelperspektive kommen häufig zum Einsatz und immer wieder auch die verkantete Kamera, was besonders im Zusammenspiel mit den Erinnerungen Okitas an seine zerbrechende Ehe (siehe den Screenshot oben) einen starken Eindruck hinterlässt und die zerbrechende Welt des Charakters schön wiederspiegelt und versinnbildlicht.
Problematisch ist, dass der Film auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt: Die ausführliche Entwicklung von Okitas persönlicher, auch familiärer Story, die Ermittlungen der Polizei und der Kampf der Menschen an Bord des Zuges sind dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten. Das sieht man auch der Laufzeit von ca. 150 Minuten an, hier wäre etwas mehr Fokus wünschenswert gewesen. Ansonsten aber ein sehr guter und erfreulich anderer Action- und Katastrophenfilm der 70er Jahre, mit entsprechend knalligem Soundtrack und trotz der Länge hohem Unterhaltungswert. nicht umsonst dienter er 20 Jahre später als Inspiration für den Blockbuster Speed.
Die Weihnachtszeit steht bevor, und wer sich selbst das eine oder andere Film-Geschenk machen will, sollte besser einen amerikanischen (oder codefree) Bluray-Player zuhause stehen haben, denn es gibt Nachrichten von der anderen Seite des Teichs:
Mit diesen Knallern können die europäischen Labels nicht so ganz mithalten:
Happy Shopping! 🙂