Original: Shinkansen daibakuha (1975) von Junya Sato

Als der Hikari-190 Hochgeschwindigkeitszug in Tokyo mit mehr als 1000 Passagieren abfährt, ahnt noch niemand, dass sich an Bord eine Bombe befindet. Und die ersten Reaktionen der Verantwortlichen auf die Bombendrohung sind gelassen: Schon wieder? Gut, wir halten den Zug an und durchsuchen ihn. Doch der clevere Plan der Bombenleger um ihren Anführer Okita (Ken Takakura) hat das einkalkuliert, ihre Bombe explodiert, sobald der Zug die Geschwindigkeit von 80 km/h unterschreitet!

Während die Bahnchefs zusammen mit dem Zugführer Aoki (Sonny Chiba) die Strecke freiräumen und um jede Minute ringen, bricht unter den Passagieren langsam Unruhe aus: Warum fährt der Zug so langsam? Und warum hält er nicht in Nagoya? Parallel macht sich die Polizei  auf die Suche nach den Bombenlegern und nimmt Kontakt mit dem Erpresser auf. Als eine erste Übergabe des geforderten Geldes scheitert und dabei einer der  Bombenleger getötet wird, beginnen auch die Verantwortlichen bei der Bahn die Nerven zu verlieren. Nur einer bleibt ganz cool und greift auf Plan B zurück: Okita selbst, denn er hat nichts mehr zu verlieren.

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Etwas ganz erstaunliches passiert an dieser Stelle mit dem Film: Er wendet sich von der – ganz den Konventionen des Katastrophen-Genres inklusive hysterischer schwangerer Frau entsprechenden – Handlung um den dahinrasenden Shinkansen ab und der Geschichte Okitas zu. In zahlreichen Flashbacks erfahren wir, dass sein Leben durch den Bankrott seiner Firma und die anschließende Scheidung seiner Frau aus der Bahn geworfen und jeglichen Sinns beraubt wurde. Wie er daraufhin mit zwei Freunden, einem gescheiterten linken Möchtegern-Revolutionär und einem arbeitslosen Jugendlichen, den Plan bis ins kleinste Detail ausheckt. Und wie er nun mit ansehen muss, wie die Polizei sich auf ihre Fährte setzt und einen nach dem anderen zur Strecke bringt.

Durch diese Wendung des Films verlagern sich auch die Sympathien immer mehr in Richtung Okita und seinem Team aus Underdogs und Verlierern vom Rand der Gesellschaft. Dazu trägt auch die Darstellung der Polizei bei, die gemachte Zusagen ignoriert, buchstäblich über Leichen geht und sich bei ihrer Jagd nach den Verbrechern auch nicht allzu sehr um das Schicksal der Passagiere an Bord des Hochgeschwindigkeitszuges zu kümmern scheint.

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Nicht viel besser kommen die Verantwortlichen bei der Bahn und die eingeschalteten Politiker weg, denen es vor allem darum geht, ihr Gesicht zu wahren. Zwischen raffinierten, spannend inszenierten Geldübergaben, Verfolgungsjagden und Versteckspiel mit der Polizei verschwimmen so nach und nach die Grenzen zwischen gut und böse und verkehren sich in das Gegenteil des erwarteten, allgemein üblichen Schemas. Ein Aspekt, mit dem mich The Bullet Train sehr positive überraschte und der ihn aus der Masse der Katastrophenfilme weit heraushebt.

Wobei der Film in Ken Takakura natürlich auch einen großartigen Hauptdarsteller zu bieten hat. Kaum jemand kann so wie er den grüblerischen, von der Welt und den Menschen enttäuschten und verlassenen einsamen Wolf geben, der langsam aber sicher immer weiter in die Enge getrieben wird. Sonny Chiba, der groß angekündigt wird, spielt dagegen nur eine Nebenrolle.

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Die Kamera ist viel in Bewegung und ganz nah an den Akteuren dran, bis hin zu extremen Nahaufnahmen wie man sie besonders aus den Italo-Western kennt. Diese Realitätsnähe scheint zu den Markenzeichen von Regisseur Junya Sato gehört zu haben, der ähnlich wie Kinji Fukasaku mit knallharten und „systemkritischen“ Yakuza-Filmen bekannt wurde, was ich mir angesichts der Ausrichtung von The Bullet Train sehr gut vorstellen kann. In den 70er Jahren gehörte er dann zu den kommerziell erfolgreichsten Filmemachern seines Landes, besonders in der Zusammenarbeit mit seinem Star Takakura.

Auch stilistisch bietet der Film deutlich mehr als nur dröge Action-Alltagskost. Frosch- und Vogelperspektive kommen häufig zum Einsatz und immer wieder auch die verkantete Kamera, was besonders im Zusammenspiel mit den Erinnerungen Okitas an seine zerbrechende Ehe (siehe den Screenshot oben) einen starken Eindruck hinterlässt und die zerbrechende Welt des Charakters schön wiederspiegelt und versinnbildlicht.

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Problematisch ist, dass der Film auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt: Die ausführliche Entwicklung von Okitas persönlicher, auch familiärer Story, die Ermittlungen der Polizei und der Kampf der Menschen an Bord des Zuges sind dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten. Das sieht man auch der Laufzeit von ca. 150 Minuten an, hier wäre etwas mehr Fokus wünschenswert gewesen. Ansonsten aber ein sehr guter und erfreulich anderer Action- und Katastrophenfilm der 70er Jahre, mit entsprechend knalligem Soundtrack und trotz der Länge hohem Unterhaltungswert. nicht umsonst dienter er 20 Jahre später als Inspiration für den Blockbuster Speed.