15 Aug
Neben den drei jugendlichen Piloten gibt es noch drei spiegelbildlich aufgestellte erwachsene Charaktere, die eine wichtige Rolle in Neon Genesis Evangelion spielen: Shinjis Vater Gendo Ikari sowie Misato Katsuragi und Ritsuko Akagi, die genau wie Asuka und Rei so etwas wie gegensätzliche Pole darstellen. Von diesen drei nimmt Misato mit Abstand den größten Raum in der Serie ein, Ritsuko und Gendo spielen zwar wichtige Nebenrollen, aber eben doch nur Nebenrollen, so dass man vergleichsweise wenig über sie erfährt. Ich werde alle drei kurz (Misato ausführlicher) vorstellen und dann auf einige Gemeinsamkeiten untereinander eingehen und einen Vergleich mit den Piloten ziehen.
Misato Katsuragi:
Als taktische Offizierin kommandiert sie die Kampfeinsätze der EVAs und ist somit die direkte Vorgesetzte der drei Piloten. Da sie Shinji und Asuka nach deren Ankunft in ihrer Wohnung unterbringt, entwickelt sie sich speziell für Shinji zudem zu einer Art großer Schwester oder fast Ersatzmutter. Sie ist sehr attraktiv, verhält sich aber häufig wenig damenhaft, was Shinji öfters peinlich ist. Sie selbst ist davon gänzlich unberührt und wirkt überhaupt äußerst selbstbewusst, sowohl was ihre Arbeit bei NERV angeht als auch in ihrem Privatleben.
Dieses Selbstvertrauen wird jedoch in den späten Folgen der Serie mehrfach erschüttert, als sie zunächst eine alte Affäre mit dem undurchsichtigen Kaji wiederbelebt und dann versucht – teilweise auf Hinweis Kajis – hinter die Geheimnisse der EVAs zu kommen. Zudem erfahren wir Zuschauer, dass Misato ebenso wie die Piloten einen Elternteil (bei ihr den Vater) verloren hat und in der Folge eine schwere Kindheit verbrachte. Vor diesem Hintergrund macht sie sich selbst Vorwürfe, hinterfragt die Beziehung zu Kaji und das Bild von sich selbst, das sie anderen gegenüber geschaffen hat.
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Dass Misato ihre „dunkle“ Seite, und damit sind wohl vor allem die Aspekte ihrer Persönlichkeit gemeint, die ihr Sexualleben bestimmen, Shinji gegenüber unterdrücken will, untermauert die Mutterrolle, in der sie sich selbst ihm gegenüber sieht. Aus diesem Gegensatz erwachsen jedoch ein Rechtfertigungsdruck und große Selbstzweifel.
Damit bildet Misato gewissermaßen das erwachsene Gegenstück zu Asuka. Beide treten nach außen hin sehr selbstbewusst auf, lassen ihrer Emotionalität freien Lauf und sind nicht zuletzt attraktiv, sie unterdrücken jedoch Aspekte ihrer Persönlichkeit, die diesem Bild widersprechen könnten. Außerdem haben beide mit einem traumatischen Verlust in ihrer Kindheit zu kämpfen, dem jeweils große Strahlkraft auf die Charakterentwicklung zugeschrieben werden.
Ritsuko Akagi:
So wie Rei der Gegenpol zu Asuka ist, so verhält sich Dr. Ritsuko Akagi, die wissenschaftliche Leiterin des EVA-Projekts, zu Misato, wenn auch nicht in vergleichbar extremer Ausprägung. Generell erfährt der Zuschauer relativ wenig über Ritsuko, sie tritt zumeist nur als distanzierte, kühl berechnende und weitgehend emotionslose Wissenschaftlerin auf. Doch auch sie hatte eine schwierige Beziehung zu ihrer (verstorbenen) Mutter, in deren Fußstapfen sie gleich in mehrerer Hinsicht trat.
Zum einen setzt sie die Arbeit ihrer Mutter fort, die an den Grundlagen des EVA-Projekts arbeitete und dabei auch die gigantischen Computergehirne entwickelte und programmierte, die alles in Neo-Tokyo 3 kontrollieren. Zum anderen liebt sie den gleichen Mann wie ihre Mutter: Gendo Ikari, und das schon seit ihrer Jugend. Dass sie wie ihre Mutter ein Verhältnis mit ihm hat und diese zu deren Lebzeiten sogar um die Beziehung beneidete, macht Ritsuko zur reinsten Verkörperung des Elektrakomplexes unter all den komplexbehafteten Charakteren der Serie.
Gendo Ikari:
Shinjis hartherziger Vater ist so etwas wie die Spinne im Netz der NGE-Geheimnisse: Er ist der Leiter des gesamten EVA-Projekts und Verbindungsperson zur Geheimorganisation SEELE, zugleich verfolgt er aber im Verborgenen eigene Pläne, die nie näher umrissen werden. Es lässt sich nur vage erahnen, dass diese irgendwie mit Rei und einer geplanten evolutionären Weiterentwicklung der Menschheit zu tun haben. Zur Umsetzung seiner Pläne ist Gendo zu allem bereit und geht eiskalt vor, was ihm besonders von seinem vernachlässigten Sohn Shinji angekreidet wird.
Über Gendos Persönlichkeit erfährt der Zuschauer kaum etwas, und das wenige, das wir erfahren, stammt überwiegend aus den Erzählungen anderer Personen, insbesondere von Shinji und Rei. Als die einzige zentrale starke männliche Person in der Serie (Kaji spielt eher eine untergeordnete Nebenrolle) ist er somit für die Deutung der Serie sehr wichtig, die vielen Unbekannten machen dabei aber zugleich viele verschiedene Ansätze möglich.
Mir scheint jedoch klar, dass die Charakterisierung Gendos und seine zentrale (und mit Macht ausgestattete) Rolle in der Serie auf eine Symbolisierung der Figur des Vaters und Familienoberhaupts hinauslaufen. Er wird dieser Rolle und den damit verbundenen Anforderungen jedoch in keiner Weise gerecht, ist nur auf seine eigenen Ziele aus und ordnet diesen auch rücksichtslos die Bedürfnisse anderer Menschen, sogar die seines eigenen Sohnes, unter. Die von Gendo ausgehende Kälte und Ablehnung gegenüber Shinji ist zu einem großen Teil für dessen emotionale Probleme und psychische Instabilität verantwortlich.
Fazit:
Die Erwachsenen, zumindest die beiden Frauen, sind genauso komplexbehaftete Persönlichkeiten wie die drei Kinder, es wird sogar wiederholt deutlich, dass es familien- und erziehungsbezogene Vorkommnisse wie Verlust eines Elternteils oder Vernachlässigung waren, die für die Probleme der Erwachsenen (mit)verantwortlich sind. Dass sich diese Probleme bei Misato und Ritsuko in einer explizit sexuellen bzw. ihre Beziehungen beeinflussenden Weise äußern, ist ein bei den Kindern nur vage angedeuteter Aspekt der Probleme.
Besonders Misato und Ritsuko, die zu Beginn der Serie mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Professionalität und ihrer Kompetenz wie potenzielle Vorbilder präsentiert werden, erfahren zum Ende ein komplette Dekonstruktion. Von diesen nach außen präsentierten Rollen bleibt kaum etwas erhalten, sie zerfallen komplett. Darin steckt eine heftige Kritik an der nur allzu menschlichen Taktik, sich im Laufe der Zeit bestimmte Images zurechtzulegen um entweder vor sich selbst oder anderen besser dazustehen und unangenehme Aspekte der eigenen Persönlichkeit auszublenden.
Dass diese Persönlichkeitsprobleme immer mit Erziehung und kaputten Familienverhältnissen zusammenhängen, und Gendo gewissermaßen eine idealtypische – wenn auch übersteigerte – Verkörperung des schlechten Vaters darstellt, impliziert nicht nur, dass die geschilderten Probleme der Kinder sich auf dem Weg zum Erwachsensein verfestigen. Es wird auch eine klare kausale Verbindung hergestellt und eine Wertung vorgenommen, die meiner Meinung nach der eigentliche Kern der ganzen Serie ist. Mehr dazu im letzten Teil der NGE-Reihe!
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