Rei Ayanami ist die dritte Pilotin neben Shinji und Asuka und zugleich die undurchsichtigste Gestalt im ohnehin nebulösen NGE-Kosmos. Lange konnte ich mir überhaupt keinen Reim auf sie machen, bis ich kürzlich von einem guten Freund und Anime-Fan eine mögliche Deutung erzählt bekam, auf der aufbauend ich endlich zu einer sinnvollen (?) Interpretation gefunden habe. Danke Stefan!

Rei zeigt so gut wie nie Emotionen, ihre Gesichtszüge bleiben permanent unverändert – erst gegen Ende der Serie sieht man sie mal kurz lächeln – und ihre Stimme ist immer gleich monoton. Mit ihren Mitschülern und anderen Mitmenschen hat sie kaum Kontakt, sie ist introvertiert und wirkt auf Grund ihres neutral-distanzierten Umgangs mit anderen Menschen fast schüchtern. Sie lebt allein in einer an ein Krankenhauszimmer oder eine Gefängniszelle erinnernden kleinen Wohnung.

Über ihre Vergangenheit und ihre Herkunft werden nur vage Andeutungen gemacht, die darauf hinweisen, dass sie eine geklonte Version von Shinjis verstorbener Mutter Yui ist. In einer der letzten Folgen opfert sie sich, um Shinji zu retten, nur um wenig später in einer neuen „Kopie“ ihres Körpers, in den ihr Geist implantiert wurde, wieder aufzutauchen. Zu dieser rätselhaften Person passt, dass „rei“ im Japanischen auch „null“ bedeutet. Aber nicht nur der Zuschauer steht bezüglich Rei oft vor einem Rätsel, auch sie selbst hinterfragt wiederholt ihre Identität, den Zweck ihrer Existenz und sich selbst.

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Mit ihrer Introvertiertheit und Ausgeglichenheit ist Rei das genaue Gegenteil von Asuka, für die diese Gegensätze im Lauf der Serie immer mehr zum Anlass von Ablehnung, ja Aggressivität werden. Weil Rei kaum Gefühle zeigt und widerspruchslos Befehle akzeptiert und umsetzt, beschimpft Asuka sie häufig als seelenlose Puppe oder Roboter. Rei lässt dies völlig kalt, von ihrer Seite besteht keinerlei Interesse an Asuka, von ihrer „professionellen“ Zusammenarbeit als Piloten natürlich abgesehen.

Völlig anders entwickelt sich ihr Verhältnis zu Shinji. Der ist von der ersten Begegnung an von der geheimnisvollen Rei fasziniert, weiß aber nicht so recht, worauf diese Faszination basiert und was er damit anfangen soll. Sein Interesse an ihrer Person, seine Zuneigung und dass er sich für sie einsetzt, ihr im Kampf sogar das Leben rettet, können die Distanziertheit und Gefühlslosigkeit schließlich durchbrechen. Ihm gegenüber kann Rei erstmals Dankbarkeit, Zuneigung und so etwas wie Freundschaft entwickeln.

Diese freundschaftlich-sorgende Beziehung erhält vor dem Hintergrund, dass Rei fast so etwas wie eine Wiedergeburt von Shinjis Mutter ist, eine ganz besondere Note. Die fast übernatürliche Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübt, wird so verständlich. Da auch sexuelle Aspekte zu dieser Anziehungskraft beitragen, wird die ohnehin komplexe Beziehung der beiden noch durch einen ödipalen Aspekt erweitert.

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Neben Reis zurückhaltendem, manchmal fast unterwürfigem Auftreten sind ihre scheinbar unzerstörbare Loyalität zu Gendo, Shinjis Vater, und die Bereitschaft, sich selbst zu Gunsten eines größeren Ziels bis zur Selbstaufgabe einzusetzen, kombiniert mit großer Willensstärke die herausragenden Eigenschaften, die ihre Person ausmachen. Damit entspricht sie in vieler Hinsicht dem klassischen japanischen Idealbild der Ehefrau.

Da sie jedoch gleichzeitig als weitgehend emotionsloser Klon präsentiert wird, immer wieder von Zweifeln bezüglich ihrer Identität und des Sinns ihres Daseins geplagt wird, erscheinen diese typischen Ideale in einem ganz anderen Licht. Verstärkt wird diese Kritik noch dadurch, dass Rei sich nach dem Tag sehnt, an dem sie wieder eins werden kann mit dem Nichts, also dem Ende ihrer Existenz. Diese tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer eigentlich von vielen klassischen Idealvorstellungen geprägten Persönlichkeit wird so zu einer beißenden Kritik an eben diesen Idealen.

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