12 Mai
Original: Nora inu (1949), von Akira Kurosawa
Sechs Wochen lang hatte ich keine Zeit für eine Filmrezension, eine Zeit die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Um wieder in Schwung zu kommen, habe ich mir ein frühes, relativ unbekanntes Meisterwerk von Akira Kurosawa herausgegriffen, das zugleich einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist und das ich öfter gesehen habe als irgendeinen anderen Kurosawa. Ein streunender Hund ist ein intelligenter, mitreißender, vor Leben und Atmosphäre vibrierender Kriminalfilm, der mit den großen Klassikern des Genres problemlos mithalten kann.
Tokyo ächzt unter einer Hitzewelle, als dem jungen Kriminalpolizisten Murakami (Toshiro Mifune) in einem überfüllten Bus ein Taschendieb die geladene Dienstwaffe stiehlt. Wie ein Besessener macht Murakami sich auf die Suche nach seinem Colt, die ihn kreuz und quer durch die Hinterhöfe, Straßen und Märkte der schwitzenden Stadt führt. Nach scheinbar endlosem Herumirren gelangt er an eine Zwischenhändlerin, über die er herausfindet, dass seine Waffe verliehen wurde; doch durch seine Unerfahrenheit entwischt ihm der „Mieter“.
Nach der verpatzten Festnahme wird Murakamis Colt für einen Raubüberfall benutzt, bei dem ein Mädchen angeschossen wird. Die Ermittlung übernimmt nun der erfahrene Inspektor Sato (Takashi Shimura), der mit Seelenruhe und gutem Riecher den jungen, von seinem Gewissen gehetzten Murakami wieder auf die richtige Spur bringt. Gemeinsam nehmen sie einen Hehler fest, über den sie Namen und Adresse des Täters herausfinden. Der hat sich aber schon seit Tagen nicht mehr zuhause bei seiner Familie blicken lassen. Doch über einen seiner Freunde erfahren die beiden, dass er mit einer Revuetänzerin ausgeht.
Die Tänzerin Harumi (Keiko Awaji) erweist sich aber als wenig kooperativ und so verstreicht wertvolle Zeit, in der ein weiterer Überfall und ein Mord mit der Waffe begangen werden. Erst als Murakami und Sato sie zuhause bei ihrer Mutter aufsuchen, ergibt sich eine weitere Spur, die Sato in das Hotel führt, in dem der Täter sich versteckt hält. Noch bevor Sato Verstärkung rufen kann, wird er niedergeschossen und der Täter entkommt erneut. Doch Harumi verrät den mit dem Killer vereinbarten Treffpunkt, und Murakami macht sich auf, seine Waffe endlich zurückzuholen.
Zentrum des Films, der sich in drei Akte gliedert (die jeweils mit dem Auftritt einer der drei für den Handlungsverlauf entscheidenden Personen verbunden sind), ist der junge Murakami, der sich mit seinen Schuldgefühlen und der Verantwortung für das durch seine Unachtsamkeit entstandene Leid abplagt.
Bereits zu Beginn des Films, als er den Diebstahl seiner Waffe seinem Vorgesetzten meldet, macht er sich schwere Vorwürfe. Diese kann Sato im zweiten Akt etwas dämpfen, zudem rücken sie angesichts der Fortschritte bei den Ermittlungen in den Hintergrund. Als mit Murakamis eigener Waffe aber zuerst ein Mord verübt und dann auch noch sein Partner Sato angeschossen wird, lasten die Schuldgefühle immer schwerer auf ihm und treiben ihn fast zur Verzweiflung. Eine Verzweiflung, die sich in der Konfrontation mit dem Täter, dem Showdown, entlädt und dann von ihm abfällt.
Dieses Duell am Ende des Films ist sehr typisch für Kurosawas Weltsicht: Der Polizist Murakami und der Killer, gut und böse, tragen ihren Kampf in einem Wäldchen aus (Wälder stehen bei Kurosawa meist symbolhaft für die Abgründe der menschlichen Seele, so auch in Rashomon oder Throne of Blood). Im Zuge des Kampfes fallen beide in einen Tümpel und sind so verdreckt, dass sie schließlich kaum mehr unterscheidbar sind.
Bereits zuvor hatte sich herausgestellt, dass dem Killer am Ende des Krieges sein Tornister mit all seinen Habseligkeiten gestohlen worden war, worauf er sein Heil in der Kriminalität gesucht hatte. Genau dasselbe war Murakami als Soldat wiederfahren, doch dieser entschied sich für ein Leben im Dienst der Gesellschaft. Beide hatten dieselben Ausgangsbedingungen, sind Menschen wie alle anderen auch, haben aber unterschiedliche Entscheidungen für ihr Leben getroffen, die sie dann zu Gegnern machten. Wie so oft betont Kurosawa auch in Ein streunender Hund, wie eng gut und böse beieinander liegen und wie schmal der Grat dazwischen ist.
Murakamis von Gewissensbissen getriebene Jagd nach dem Colt wird eingerahmt – oder besser umhüllt – von einer außergewöhnlich lebendigen, greifbaren Umwelt. Kurosawa treibt seinen permanent schwitzenden Held rastlos durch überfüllte Busse, hektische Märkte, zwielichtige Hinterhöfe, den Straßenstrich, ein ausverkauftes Baseballstadion und rauchgeschwängerte Tanzlokale. Die fast am eigenen Körper spürbare Hitze, die Ruinen des zerbombten Tokyo und der Kampf der Menschen um das Lebensnotwendige sind allgegenwärtig und nehmen regelrecht ein Eigenleben an.
Bestes Beispiel für diese außergewöhnliche atmosphärische Dichte ist eine Szene, in der die Tänzerinnen einer Revueshow nach ihrem Auftritt bis zum Äußersten erschöpft in ihrem Ruheraum dicht gedrängt auf dem Boden liegen. Ein Knäuel von Armen, Beinen und Leibern entsteht, in dem Schweiß jedes Stückchen Haut bedeckt, von Nase oder Kinn tropft und über dem nur das schwere angestrengte Atmen und Stöhnen zu hören ist. Die sehr plastische Darstellung der Hitzewelle verstärkt zusätzlich den Eindruck der Belastung durch die Extremsituation, in der sich Murakami befindet.
Wegen dieses Realismus in der Darstellung normaler Menschen und ihrer Lebenswelt sowie des mit sich hadernden Helden Murakami wird Ein streunender Hund oft in Beziehung zum italienischen Neorealismus gesetzt. Die Parallelen zu Vittorio de Sicas ein Jahr zuvor erschienen Meisterwerks Fahrraddiebe, das als Vorzeigefilm des Neorealismus gilt, sind in der Tat unbestreitbar. Doch Kurosawa konnte diesen nicht gesehen haben (Fahrraddiebe kam erst Ende 1950 nach Japan) und hatte sowieso ein ganz anderes Vorbild: Er wollte einen Film im Stile der Kriminalromane von Georges Simenon drehen, den er sehr schätzte (so wie ich, was vielleicht auch einer der Gründe ist, warum ich den Film so liebe) und zu dessen Markenzeichen besonders authentische Milieuschilderungen gehörten.
Um diese große Stimmungsdichte zu erreichen, arbeitet Kurosawa sehr oft mit multiplen Bildebenen. Ein schönes Beispiels ist der Screenshot unten. Im Hintergrund telefoniert Sato und berichtet von seinen Fortschritten bei den Ermittlungen (hier wird also die Handlung vorangetrieben) und im Vordergrund schäkert der Concierge mit seiner Frau. Auf solche Überlagerungen von Handlungselementen und atmosphärischen Elementen stößt man immer wieder.
Außerdem wird die Lebendigkeit des Films durch eine große Beweglichkeit der Kamera sowie wechselnde Perspektiven unterstrichen. Immer wieder wird besonders der Held Murakami aus der Froschperspektive gezeigt, dann wieder gibt es Einstellungen aus der Vogelperspektive, seitliche und frontale Kamerafahrten sowie extreme Detailaufnahmen.
Bei aller Begeisterung muss ich aber auch eingestehen, dass der Film eine große Schwäche hat: Zu Beginn macht ein Erzähler aus dem Off zwei, drei Bemerkungen („Es war einer der heißesten Tage“, „Murakami war auf dem Rückweg von der Nachtschicht, als ihm seine Pistole gestohlen wurde“) um mit einem kurzen Flashback die Story ins Rollen zu bringen. Diese Verwendung eines Erzählers ist ziemlich unschön, inkonsequent (weil der Erzähler nie wieder im Film auftaucht) und auch total überflüssig. Diese Informationen hätte Kurosawa dem Zuschauer auch eleganter vermitteln können, beispielsweise über die Konversation Murakamis mit seinem Vorgesetzten in der Auftaktszene des Films.
Aber dieses kleine Ärgernis ist schnell vergessen, wenn der Film, seine Handlung und die einzigartige Atmosphäre einen erstmal ganz in Beschlag genommen haben, und das dauert nicht lange!
3 Kommentare for "Ein streunender Hund"
Danke für die Besprechung dieses zu wenig beachteten Juwels – ein faszinierendes Frühwerk von Kurosawa, das für mich erstaunlicherweise mit den späteren Meisterwerken durchaus mithalten kann…
Nichts zu danken!
Ich schätze ja die früheren Werke Kurosawas ganz besonders und hab sie fest ins Herz geschlossen, wie etwa Kein Bedauern für meine Jugend, Rashomon oder natürlich Ikiru. An diesen Filmen fasziniert mich vor allem ihre Experimentierfreude, ihre unbändige mitreißende Kraft und der unbedingte Glaube, etwas bewegen zu können. Vieles davon fehlt in den späten Werken, die dafür eben geschliffener und durchgeistigter sind.
3vestige
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