Originaltitel: Ikiru (1952), von Akira Kurosawa

Von all den großartigen, mitreißenden, beeindruckenden und gedankenanstoßenden Filmen Kurosawas ist Einmal wirklich leben mir der Liebste. Kein anderes Werk konzentriert sich so auf einen Charakter, verzichtet so konsequent auf handlungsinduzierte Spannung und bringt doch so sehr auf den Punkt, worum es Kurosawa in der ersten Hälfte seiner Regiekarriere ging.

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Kanji Watanabe (Takashi Shimura), Abteilungsleiter einer städtischen Beschwerdestelle, steht kurz vor der Pensionierung als er erfährt, dass er an Magenkrebs leidet und nur noch wenige Monate zu leben hat. Nach dem ersten – großartig inszenierten – Entsetzen klammert er sich an die Dinge seines Lebens, die ihm Halt geben sollen.

Doch seine Enttäuschung ist schmerzhaft und allumfassend: Seine Auszeichnungen von der Behörde erscheinen ihm beedeutunglos, ja wie Hohn. Ihm wird schmerzhaft bewusst, dass er all die Jahre als machtloses Rädchen in der Bürokratie verschwendet hat. Sein über alles geliebter Sohn kümmert sich nicht um ihn und ist nur um sein Erbe sorgt. Arbeit und Familie, die Eckpfeiler des Lebens, erweisen sich als bloße Fassade, die nun, da Watanabe auf sie angewiesen wäre, in Trümmern gehen.

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Nun wendet er sich den weltlichen Freuden zu, stürzt sich ins Nachtleben, trinkt, spielt und tanzt und kann dadurch seine Einsamkeit doch nicht abschütteln. Er beginnt auch eine kurze Freundschaft mit einer früheren Mitarbeiterin, doch sie weiss nicht so recht, was sie mit dem alten Mann anfangen soll und ihm wird klar, dass er das was er sucht, nämlich eine Bestätigung für den Sinn seines Lebens, nicht durch sie finden kann.

Bei einer Begegnung der beiden in einem Cafe, in dem gerade eine Geburtstagsfeier stattfindet, erinnert sich Watanabe an einige Frauen aus einem armen Stadtviertel, die für ihre Kinder einen Spielplatz bei seiner Behörde beantragt hatten. Er beschließt, diesen Spielplatz wahr werden zu lassen und kämpft ohne Unterlass, ohne Rücksicht auf seine eigene Person und seinen Ruf gegen die Widerstände der Bürokratie, um seinem Leben doch noch einen Sinn zu geben.

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An dieser Stelle bricht Kurosawa den Film in zwei Teile, die Handlung springt in die Zukunft, Watanabe ist tot. Bei seiner Beerdigung streiten die Politiker und Beamten sich darum, wem die Ehren für den Bau des Spielplatzes zustehen, die Bürokratie hat sich nicht verändert und ignoriert weiterhin die Bedürfnisse der Menschen. Aber für ein paar spielende Kinder hat Watanabe die Welt verändert. Und was das wichtigste ist, er hat durch das was er getan hat zu sich selbst und damit zum Glücklichsein gefunden. Richard Brown bezeichnete Ikiru als beispielhaften cineastischen Existenzialismus:

What it says in starkly lucid terms is that ‚life‘ is meaningless when everything is said and done; at the same time one man’s life can acquire meaning when he undertakes to perform some task which to him is meaningful. What everyone else thinks about that man’s life is utterly beside the point, even ludicrous. The meaning of life is what he commits the meaning of his life to be.

Dieser Schnitt Kurosawas war sehr gewagt und wirkt auf den Zuschauer zunächst frustrierend: Genau in dem Moment, als der Anti-Held endlich zum Helden wird, werden wir von ihm weggerissen und zu seiner Beerdigung versetzt. Doch Kurosawas waghalsiges Manöver geht auf. Nachdem wir im ersten Teil des Films die Wahrheit über Watanabe erfahren haben, ihn und seine Motivation kennengelernt haben, sehen wir ihn nun durch die Perspektive seiner Mitmenschen, seiner Kollegen und Verwandten. Sie versuchen, hinter den Grund seiner plötzlichen Verwandlung zu kommen, interpretieren und spekulieren und nähern sich nach und nach der uns bereits bekannten Wahrheit an, die dadurch nochmals bekräftigt wird.

Zugleich kommt Kurosawa damit wieder auf die bereits zu Beginn des Films vorgebrachte heftige Kritik an der Politik, den Behörden und großen Organisationen ganz generell zurück. Damit berührt er eine zweite, globale Thematik, nämlich die Kritik an der industriellen Gesellschaft, die den Menschen einer seelenlosen Bürokratie unterwirft und ihn zu bedeutungslosen Tätigkeiten verdammt.

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Einmal wirklich leben ist voller unvergesslicher Szenen, brillanter Szenen. Zur Eröffnung zeigt uns Kurosawa eine Röntgenaufnahme von Watanabes Magen, zu der ein Erzähler aus dem Off unmissverständlich klar macht, dass Watanabe nur noch wenige Monate zu leben hat. Dann sehen wir Watanabe selbst, zusammengekauert hinter seinem Schreibtisch, mechanisch Papiere wälzend, und hören den Erzähler sagen, dass Watanabe eigentlich bereits seit 20 Jahren tot ist.

Absolut genial auch, wie Kurosawa die Beziehung Watanabes zu seinem Sohn und die ganze Geschichte dieser Beziehung in wenigen Minuten zusammenfasst und die Bedeutung der Liebe Watanabes zu seinem Sohn herausstreicht. Als sein Sohn nach ihm ruft, huscht ein Glanz über sein Gesicht, er springt freudig auf und wird dann doch nur ermahnt, die Tür abzuschließen. Mitanzusehen, wie Watanabe von seinem Sohn, für den er sich jahrzehntelang aufopferte, dann in einer einzigen Sekunde in die Bedeutungslosigkeit gestoßen wird, das ist ein Moment von so schlichter und doch überwältigender Emotionalität wie es ihn kaum in einem andern Film Kurosawas gibt.

Ganz wunderbar auch die Sterbeszene Watanabes, der im Schneegestöber auf einer Schaukel „seines“ Parks sitzend, leise traurige Lieder vor sich hin singt und dabei endlich glücklich ist. Der Friede der eingeschneiten Natur wird hier zum Seelenfrieden.

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Ich könnte noch seitenweise eine brillante Szene nach der anderen aufzählen, aber diesen Film muss man einfach selbst gesehen haben. Vor allem muss man auch die fantastische Leistung Takashi Shimuras herausstreichen und bewundern, der mit seiner Interpretation der Rolle des Kanji Watanabe (die stark von den ursprünglichen Vorstellungen Kurosawas abwich) eine Ikone des Weltkinos schuf. Ein ganz großer Klassiker!

[Hinweis: Dies ist die stark erweiterte und ergänzte Version eines ursprünglich am 24. September 2006 veröffentlichten Beitrags.]