Über zwei Dinge habe ich mich doch sehr gewundert, als ich vor kurzem anfing, mich näher mit Mikio Naruse zu beschäftigen: Erstens seine außergewöhnlich lange Schaffenskrise und zweitens, dass seine Filme nicht nur im Westen unbekannt, sondern auch in Japan seit Jahrzehnten nahezu in Vergessenheit geraten sind. Für beide Phänomene sind mir inzwischen (mögliche) Erklärungen begegnet.

Immer wieder habe ich in der älteren Literatur von der ominösen, 16jährigen Schaffenskrise Naruses von 1935 bis 1951 gelesen, für die sowohl persönliche Probleme als auch die Zensur verantwortlich gemacht werden. In der Tat litten auch andere große Regisseure unter den Restriktionen und Arbeitsbedingungen während des Krieges, insofern mag es durchaus sein, dass Naruse nicht die Filme machen konnte, die er machen wollte.

Aber, so habe ich mir immer wieder gedacht, ein so großartiger Regisseur kann doch nicht plötzlich aufhören, gute Filme zu drehen, und 16 Jahre später wieder damit anfangen! Da ich selbst bisher leider nur Nachkriegsfilme Naruses gesehen habe, konnte ich mir darauf nicht wirklich einen Reim machen. Inzwischen habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass die „Schaffenskrise“ zu einem guten Teil schlicht auf der Unkenntnis der Filme beruht. Denn es scheint durchaus eine Reihe anspruchsvoller und ambitionierter Filme Naruses aus den späten 30er Jahren zu geben, die allerdings erst in der jüngeren Vergangenheit auch im Westen gezeigt wurden. Alexander Jacoby zufolge widerlegen diese die angebliche Schaffenskrise auf eindrucksvolle Weise:

Recent screenings in Japan and Europe of such hitherto unknown films as Avalanche (1937) and A Woman’s Sorrows (1937), coupled with revivals of Wife, Be Like a Rose and The Whole Family Works (1939), have revealed the consistent quality and complexity of Naruse’s work in this period: an intriguing blend of melodrama with realism; a novelistic ability to balance and develop a set of distinct but overlapping narratives, and to create large numbers of plausible, three-dimensional characters; an imaginative willingness to experiment with diverse cinematic styles and their expressive potential.

Soviel zu Schaffenskrise, mehr wenn ich diese und andere frühe Filme Naruses mit eigenen Augen gesehen habe. Das zweite große Rätsel, das sich mir stellt, ist die fehlende Popularität Naruses gerade in Japan. Wie mir verschiedentlich von Japanern berichtet wurde, kennt man natürlich Kurosawa und Ozu, vielleicht noch Mizoguchi. Deren Filme werden auch ab und an im Fernsehen gezeigt, während Naruse offenbar schon seit Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Und das, obwohl seine Familiendramen eigentlich eher TV-kompatibel sind als die bildgewaltigen Epen eines Kurosawa oder Mizoguchi.

Ich konnte mir darauf einfach keinen Reim machen, bis mir neulich eine Episode aus dem Making-Of eines Ghibli-Films einfiel. Darin wird von den massiven Bedenken der Studiobosse gegenüber Tonari no totoro (ein sehr erfolgreiches Anime aus den 80er Jahren) berichtet. Niemand wollte das Projekt finanzieren, weil man glaubte, kein Mensch würde sich einen Kinderfilm ansehen, der in den von Armut und Entbehrung geprägten Jahren vor dem japanischen Wirtschaftswunder spielt. Und da hat es klick gemacht!

Wenn sich die seit Jahrzehnten im Überfluss lebenden Japaner nicht mit einer Zeit, in der in ihrem Land Armut und Entbehrung herrschten, auseinander setzen möchten (oder wenn Programmdirektoren dies glauben), dann würden sie sich auch keinen Naruse ansehen, in dem Kinder aus Geldsorgen zur Adoption freigegeben werden. Just die realistische und ergreifende Weise, in der Naruse in seinen Filmen Nöte der Unterschicht problematisiert, könnte für heutige Japaner beklemmend wirken und Erinnerungen heraufbeschwören, über die man lieber Gras wachsen lässt. Warum in die Zitrone beissen, wenn man in der anderen Hand einen Schoko-Riegel hat?