Original: Noriko no shokutaku (2005) von Sion Sono

Als etwa 20 bis 30 Minuten des Films vorüber waren, haben die ersten Zuschauer das Kino verlassen. Der Film nimmt sich nämlich gerade am Anfang sehr viel Zeit, um in die Gedankenwelt der Protagonisten einzutauchen, was überwiegend durch Erzählungen aus der Ich-Perspektive erfolgt. Diese permanente Erzählung aus dem Off wirkte schnell ermüdend, aber wer die Geduld aufbrachte und sich den Film zu Ende ansah, wurde belohnt.

Norikos Dinnertable baut auf Sion Sonos früherem Film Suicide Club auf, erzählt aber nicht eine breitere, auf eine ganze Generation gemünzte Geschichte sondern die einer einzelnen Familie: Noriko (Kazue Fukiishi) ist ein gewöhnlicher Teenager, lebt mit Vater, Mutter und ihrer Schwester Yuka (Yuriko Yoshitaka) in einer Kleinstadt in behüteten Verhältnissen, aus denen sie sehnlichst ausbrechen will. Zunächst flüchtet sie sich ins Internet, wo sie mit ähnlich denkenden Mädchen chattet und Ueno54 (Tsugumi) kennenlernt, mit der sie sich schnell anfreundet. Dieses Mädchen, Noriko nur unter seinem Chat-Pseudonym bekannt, inspiriert Noriko dazu, nach Tokyo auszureißen und Ueno54 persönlich kennenzulernen.

In Tokyo trifft sie ihre Internetbekanntschaft, die im wirklichen Leben Kumiko heisst und eine Agentur leitet, die für Kunden ein glückliches Familienleben simuliert. Auch Noriko wird für die Agentur tätig, nimmt je nach Situation verschiedene Rollen an und vergisst darüber ihre eigene Familie. Als ihre Schwester Yuka ihr nachfolgt und die Mutter sich daraufhin das Leben nimmt, begibt sich der Vater (Ken Mitsuishi) auf den Spuren seiner Töchter nach Tokyo. In einem finalen Treffen werden alle mit ihrem Versagen und ihrer Unzufriedenheit in ihren jeweiligen Rollen konfrontiert, die zerbrochene Familie findet dadurch wieder zusammen.

In dieser kurzen Zusammenfassung mag das alles ganz verständlich und nachvollziehbar klingen, aber der Film ist wirklich hartes Brot! Die Monologe aus dem Off dominieren das erste Drittel des 160 Minuten langen Films fast komplett und durch die verschiedenen Perspektiven der jeweils berichtenden Familienmitglieder ist oft unklar, welcher Version nun „geglaubt“ werden kann. Die Verquickung der Familien-Agentur mit dem Suicide Club und verschiedenen Massenselbstmorden von Teenagern, die undurchsichtige Figur der Kumiko (Ueno54) sowie die unruhige Kamera sorgen für zusätzliche Verwirrung und erschweren es, den roten Faden des Films zu erkennen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich Suicide Club gekannt hätte.

Unter dem Strich ist Norikos Dinnertable jedoch eine brillante Analyse der Rollen, die es in einer Familie einzunehmen gilt, und welche Schwierigkeiten Menschen dabei haben, diesen Rollen und ihren Anforderungen zu entsprechen. Durch die Perspektivwechsel werden die Hintergründe, die Motive und die Ziele und Wünsche der Personen immer wieder neu beleuchtet. Die Familienagentur ist letztlich das Vehikel, das es den Protagonisten erlaubt, aus ihren erlernten, festgefahrenen Rollen auszubrechen, ihre Probleme endlich zu verbalisieren und sich darüber auszutauschen und dadurch letztlich die Rolle so auszufüllen, dass sie mit sich selbst und den anderen im Einklang sind. Sehr sehenswert, nicht nur für Studenten der Soziologie und Psychologie!