Original: Sen to Chihiro no kamikakushi (2001), von Hayao Miyazaki

Die kleine Chihiro und ihre Eltern geraten beim Umzug in ihr neues Zuhause versehentlich in einen aufgegebenen Vergnügungspark. Chihiro ahnt, dass etwas nicht stimmt, aber ihre Eltern machen sich bedenkenlos über die in einer Imbissbude aufgetischten Köstlichkeiten her. Im Herzen des Vergnügungsparks liegt jedoch ein von der Hexe Yubaba geführtes Badehaus für Geister und Götter, und für diese waren die Speisen bestimmt. Zur Strafe verwandelt Yubaba Chihiros Eltern in Schweine.

Der völlig verstörten und eingeschüchterten Chihiro gelingt es jedoch mit Hilfe von Haku, Zauberlehrling und rechte Hand Yubabas, eine Arbeit in dem Badehaus zu erhalten, wodurch sie dem Zauber entgeht. Nun muss sie eine Reihe von Hindernissen überwinden und Abenteuer bestehen, um ihre Eltern wieder in Menschen zurückzuverwandeln. Und auch Haku ist von einem Geheimnis umgeben, das es zu entwirren gilt.

Spirited Away Screenshot 1

Wieder einmal gelingt es Hayao Miyazaki, eine faszinierende, mitreißende sowie außergewöhnlich detailreiche und daher glaubwürdige und real wirkende Welt zu erschaffen. Das Badehaus mit seinen Fahrstuhlschächten, Vorratskellern, Küchen, Dampfbädern und den unzähligen merkwürdig-grotesken Bewohnern ist ein Kosmos ganz für sich und ein intuitiv nachvollziehbarer noch dazu, so dass kaum etwas dem Zuschauer explizit mittels der üblichen Lückenfüller-Dialoge erklärt werden muss.

So fantastisch diese Geisterwelt auch sein mag, Chihiros Reise ins Zauberland ist der erste und einzige Film Miyazakis, der ausdrücklich im Japan der Gegenwart spielt. Das wird gleich am Anfang klar, als Chihiro und ihre Eltern in einem schicken Audi zu ihrem neuen Zuhause unterwegs sind. Insofern hält die Parallelwelt des Badehauses der japanischen Gesellschaft den Spiegel vor und lehrt Chihiro – stellvertretend übrigens für die verzogenen Töchter eines Freundes von Miyazaki, die ihn zu dem Film inspiriert hatten – wichtige Lektionen über das Leben und traditionelle Werte sowie den Umgang mit Menschen.

Damit kritisiert der Film auch außergewöhnlich direkt den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Hatte Miyazaki in seinen früheren Filmen seine Agenda (Achtung vor Menschen und der Umwelt, Ablehnung von Gewalt und Macht) zwar unübersehbar aber doch eher indirekt transportiert, wird er hier an einigen Stellen sehr deutlich, fast drastisch in seiner Verurteilung der modernen Lebens- und Denkweisen. Über all die Symbole und Anspielungen und wie man sie interpretieren könnte ließe sich problemlos ein ganzes Buch schreiben, ich werde mich hier auf drei mir besonders zentral erscheinende Punkte konzentrieren: Erziehung, Konsumorientierung, Mangel an Werten und Traditionen.

Spirited Away Screenshot 2

Schon am Beginn des Films steht die Kritik an der Erziehung. Chihiro hat überhaupt keinen Bezug zu ihren kulturellen Wurzeln, kleine Schreine am Wegesrand erkennt sie nicht, Skulpturen ängstigen sie, weil sie ihr fremd sind und sie deren Bedeutung nicht kennt. Zudem mangelt es ihr an grundlegenden Umgangsformen: Sie ist völlig verzogen, nörgelt die ganze Zeit, ist unselbständig und muss daran erinnert werden, sich zu bedanken.

Diese Defizite in der Erziehung sind das Ergebnis eines gestörten Verhältnisses von Eltern und Kindern. Es fehlt Chihiro offensichtlich an Zuwendung und Verständnis und auch ihre Ängste beim Betreten des Vergnügungsparks werden von ihren Eltern ignoriert. Chihiro wirkt in dieser Eröffnungssequenz des Films fast wie ein Anhängsel ihrer Eltern, die allein auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert sind.

Dieser konsumorientierte Materialismus bringt dann die ganze Handlung ins Rollen: Die Eltern machen sich ohne auch nur einen Moment zu zögern über die für die Götter gedachten Speisen her, Bedenken wischt der Vater mit dem Hinweis auf seine Kreditkarten beiseite. Im Weltbild der Eltern ist alles käuflich, und Kreditkarten lösen jedes Problem. Schnell wird aus dem vorsichtigen Kosten der Gerichte ein wahrhaft tierisches Fressen, das bereits die Entmenschlichung mittels der Verwandlung in Schweine andeutet.

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Materialismus und Gier sind Elemente, die sich durch den ganzen Film ziehen. Auch die Hexe Yubaba ist auf Reichtum und weltliche Güter fixiert und die Bewohner und Angestellten des Badhauses geraten völlig außer sich, als ihnen von einem unerwarteten Besucher, dem Ohngesicht, Goldnuggets angeboten werden. Bedenkenlos erfüllen sie diesem daraufhin jeden Wunsch. Angespornt von der Willfährigkeit entwickelt Ohngesicht einen unstillbaren Heißhunger und verschlingt blind alles an Speisen, was ihm geboten wird. Dadurch bläht er sich immer weiter auf und nimmt monströse Züge an, bis Chihiro ihm einen magischen Kloß zu essen gibt.

Diesen Kloß hatte sie zuvor als Dank von einem Flussgeist geschenkt bekommen, den sie von Abfällen befreit hatte. Denn die Konsequenz der Konsumorientierung und des Materialismus ist eine Geringschätzung gegenüber der Umwelt und logischerweise deren Verschmutzung. So trifft der Flussgeist zuerst als Faulgott im Badehaus ein, eine stinkende Schleimspur hinter sich herziehend. Als Chihiro ihn in ein Bad verfrachtet, entdeckt sie eine Art Dorn in ihm, den sie gemeinsam mit anderen herausziehen kann und der sich als Lenker eines Fahrrads entpuppt, das zusammen mit Tonnen anderen Mülls den Flussgeist in einen stinkenden, schmutzstarrenden Faulgott verwandelte.

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Vom Müll der modernen Konsumgesellschaft befreit, erscheint der Flussgeist Chihiro in der Form einer Noh-Maske, Symbol für das alte, traditionelle Japan. Daher ist diese Episode für mich das spirituelle Zentrum des Films: Neben der Thematisierung der Umweltschutzproblematik, die sich bei Miyazaki regelmäßig wiederfindet, gibt es hier noch eine weitere, tiefergehende Ebene.

Es wird nämlich nicht nur der Fluss und damit die Natur gereinigt, sondern in gemeinsamer Anstrengung vereint befreien Protagonistin und Antagonistin die Versinnbildlichung der Kultur und Tradition Japans von all dem Schmutz und Abfall, mit dem diese heute bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet ist. Die Besinnung auf althergebrachte Werte, die bereits in der Kritik an Chihiros mangelhafter Erziehung anklang, wird hier im Symbol der Noh-Maske auf den Punkt gebracht und angemahnt.

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Mit jedem der erfolgreich absolvierten Abenteuer wächst Chihiro ein Stückchen, wird sich nicht nur ihrer selbst sondern auch ihrer Mitmenschen und ihrer Umwelt bewusster und wird vom hilfsbedürftigen Tollpatsch selbst zu einer großen Hilfe für andere. Bereits in Kikis kleiner Lieferservice stand die Entwicklung und geistig-moralische Reifung eines jungen Mädchens im Zentrum eines Miyazaki-Films.

In Chihiros Reise ins Zauberland geht der Meister nun noch einen Schritt weiter: Chihiros Entwicklung von der verwöhnten Göre zu einem gereiften Mädchen ist nicht nur ein individuelles Beispiel und ein Ansporn, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lebensstil einer ganzen Kultur. Wie nebenbei trägt die Besinnung auf alte Werte und Moralvorstellungen dazu bei, dass Chihiro erfolgreich ihre Eltern befreien kann.

Dass der Film wunderschön gezeichnet und animiert ist, mit einer Vielzahl liebenswert-skurriler Charaktere aufwartet (es gibt auch ein Wiedersehen mit den makuro kurosuke aus Mein Nachbar Totoro) und überaus unterhaltsam ist, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen. Darüber hinaus ist er für mich der vielschichtigste und engagierteste Miyazaki überhaupt, und damit natürlich auch Anwärter auf den Titel des besten Miyazaki.