Original: Tokyo Godfathers (2003) von Satoshi Kon

Am Weihnachtsabend entdecken drei Tokyoter Obdachlose ein ausgesetztes Baby. Während der mürrische Gin das kleine Ding möglichst bald der Polizei übergeben will, entdeckt Hana, ein alternder schwuler Transvestit, die Berufung zur Mutter und will die Eltern des Kindes suchen. Widerwillig schließt sich auch Miyuki, eine 16jährige Ausreißerin, dieser Suche an.

Im eingeschneiten Tokyo verfolgen die drei die Spur des Kindes zurück, zu Bahnhofsschließfächern, verlassenen und abgerissenen Häusern, werden sogar in einen Bandenkrieg hineingezogen und riskieren bei Kämpfen mit Jugendlichen und wilden Verfolgungsjagden Kopf und Kragen. Vor allem stoßen die drei aber auf eine Reihe menschlicher Schicksale und Tragödien und nicht zuletzt entdecken sie ihre eigene familiäre Vergangenheit ganz neu.

So bringt das Findelbaby die drei zunächst dazu, sich mit ihrem Versagen und ihren familiären Problemen auseinanderzusetzen und wird dann zum Heilsbringer.

Familie steht im Kern des Films und findet sich überall wieder. Gin als „Vater“, Hana als „Mutter“ und Miyuki als „Tochter“ bilden die typische Drei-Personen-Familie unserer postindustriellen, alternden Gesellschaft, wenn auch in einer sehr ungewöhnlich-grotesken und zweckgebundenen Ausformung. Alle drei sind in dieser Zweckfamilie zusammengekommen, weil sie die Konflikte und die Verantwortung in ihrer echten Familie nicht mehr (er)tragen konnten oder – Hanas Fall – nie eine echte Familie hatten und nun verzweifelt nach einer suchen. Aus diesem Grund ist es auch Hana, der/die sich unbedingt auf die Suche nach den Eltern des Babys machen will: Sie will diese stellvertretend für ihre eigenen Eltern konfrontieren.

Wie sich im dritten Akt des Films herausstellt (Achtung, mächtige Spoiler in diesem Absatz!) wurde das Baby jedoch gar nicht von seinen echten Eltern ausgesetzt sondern aus dem Krankenhaus entführt. Hinter dieser Entführung steckt die nächste menschliche Tragödie, deren Spur die drei auf verschlungenen Pfaden – zunächst Fotos aus glücklichen Zeiten, dann ein zerstörtes Heim und letztlich eine Fehlgeburt und ein Selbstmordversuch – folgen. Doch auch dieser kaputten Familie bringt das Baby Hoffnung und einen Neubeginn.

Das Baby als Erlöser, als Heilsbringer – meine Wortwahl kommt nicht von ungefähr. Tokyo Godfathers ist voller christlicher Symbolik, beginnend mit der ersten Szene, in der ein Krippenspiel aufgeführt wird und dem uns aus der Krippe anlächelnden Jesuskind, das wenig später ein Echo in dem zwischen Mülltüten und Zeitungen versteckten Findelkind findet (siehe erster Screenshot). Dazu kommen Anspielungen auf Engel, Auferstehung und natürlich die drei Könige aus dem Morgenland, welche von Gin, Hana und Miyuki verkörpert werden.

Die Verknüpfung des auch in Japan als Fest der Familie wahrgenommenen Weihnachten mit der Suche nach und dem Wiederfinden von Familie macht den universalen Charakter und die Symbolkraft, den dieses Fest auch außerhalb der christlichen Kultur und losgelöst vom biblischen Hintergrund angenommen hat, deutlich. So transzendiert Regisseur Satoshi Kon durch seine vom christlichen kulturellen Erbe unbelastete Herangehensweise und das Spiel mit der Weihnachtsgeschichte all das, was Weihnachten im Kern ausmacht und fasst dies in eine dem auch in kultureller Hinsicht globalisierten 21. Jahrhundert angemessene Form.

Neben dem Spiel mit der christlichen Symbolik und dem Thema Familie gibt es in Tokyo Godfathers noch ein weiteres wichtiges Element, das im Hintergrund allgegenwärtig ist und die Stimmung des Filmes mitprägt: Die Architektur.

Bereits während der Opening Titles folgen wir den drei Protagonisten mit dem Baby durch die Straßen Tokyos, und die Titel der Mitwirkenden des Films tauchen im Hintergrund auf, als Botschaft auf Werbeplakaten, als Name eines Restaurants, auf Schaufensterscheiben und LKWs.

Auch dass Tokyo schon im Filmtitel präsent ist, ist kein Zufall: Die wichtigsten, das Stadtbild prägenden und jedem Japaner (und Japanbegeisterten) bekannten Wahrzeichen wie die Doppeltürme des Tokyoter Rathauses, die mit Neonwerbung gepflasterten, belebten Straßenzüge und natürlich der Tokyo Tower sind im Film nahezu allgegenwärtig. Aber auch das Gewirr der kleinen Nebenstraßen, Parkanlagen und das Meer der schneebedeckten Dächer tragen entscheidend zur Atmosphäre des Films bei und dazu, ihn zu einer bezaubernden Liebeserklärung an Tokyo zu machen, inklusive mehrerer eingestreuter Haikus.

Das Spiel mit Architektur als Bedeutungsträger geht aber noch viel weiter. In einer Szene, in der Gin von einer Bande Jugendlicher zusammengeschlagen wird, flackern im Hintergund in der Fensterfront eines Gebäudes beleuchtete Fenster der Reihe nach auf bzw. verlöschen, je nach Gins Gesundheitszustand. Die Macher des Films spielen damit auf die in Computerspielen wie Street Fighter übliche Darstellung des Kräfteverhältnisses zwischen den Kontrahenten an.

Quer durch den ganzen Film tauchen außerdem immer wieder im Hintergrund Gebäude auf, die an menschliche Gesichtszüge erinnern: Fensterreihen bilden Augen und Nasen, Vordächer oder Türen stehen für Münder. Typische Beispiele wären etwa die Szene, in der Miyuki in einer Telefonzelle vor einem Gebäude mit zwei horizontalen und einer dazwischenliegenden vertikalen Fensterreihe und einer großen Doppeltür als Eingang steht sowie natürlich der Schluss des Films: Die Außenansicht des Krankenhauses, in dem sich alle nach dem Finale wiederfinden, mit ihrem Smiley-Gesicht.

Meisterhaft fügt Satoshi Kon die moderne Metropole Tokyo, die in allen Industriegesellschaften auftretende Problematik der sich auflösenden Familien und die mit Weihnachten verbundenen kulturell-religiösen Aspekte zusammen und formt daraus eine zeitgemäße Variante der Weihnachtsgeschichte. Gewissermaßen ist Tokyo Godfathers somit das Pendant zu Charles Dickens A Christmas Carol, das im 19. Jahrhundert gesellschaftliche Entwicklungen und Missstände unter Verwendung der Weihnachtsgeschichte thematisierte.

Dass dies ausgerechnet einem Japaner in einem Anime gelingt, ist in meinen Augen keineswegs Zufall. Die japanische Alltagskultur der Gegenwart ist wie kaum eine andere ein Amalgam aus den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen, und Anime sind inzwischen zu einem der wichtigsten Mittel geworden, mit denen Japan sich artikuliert.

So ist ausgerechnet der japanische Anime Tokyo Godfathers einer der schönsten und die Bedeutung dieses Familienfestes am besten aufgreifenden Weihnachtsfilme überhaupt. Für die anstehenden Feiertage wärmstens zu empfehlen!