Original: Onna ga kaidan wo agaru toki, (1960) von Mikio Naruse

1960 war ein sehr produktives Jahr für Naruse, nicht weniger als vier Filme brachte er auf die Leinwand. Bei zwei dieser Filme bietet sich ein direkter Vergleich an, um das Spannungsfeld, in dem Naruse arbeitete, zu verdeutlichen. Los geht’s mit When a woman ascends the stairs, seinem wahrscheinlich bekanntesten Werk überhaupt, der zweite Teil ist dann die Rezension zu Daughters, wives and a mother.

Keiko (Hideko Takamine), eine junge Witwe, arbeitet als Barhostess in Ginza. Jeden Tag steigt sie die Stufen zur Bar hinauf und überwindet sich, den verhassten Job zu tun. Sie ist gut, sehr gut, aber ihre etwas konservativen Ansichten und die Weigerung, mit Kunden intim zu werden, verhindern größeren finanziellen Erfolg. Doch genau diese Distanziertheit, um nicht zu sagen „Unbeflecktheit“, macht auch einen Teil ihrer Anziehungskraft aus und bringt ihr bei ihren Kolleginnen, Kunden und dem Barmanager Komatsu (Tatsuya Nakadai) Respekt und Anerkennung. Ihre einzigen möglichen Auswege aus dem verhassten Hostessen-Leben wären die Ehe oder eine eigene Bar, doch die Versuche, das Geld für die Bar zusammen zu bekommen, scheitern an ihrer Weigerung, reichen Kunden zu Willen zu sein – und daran, dass sie nebenbei auch noch ihre Familie unterstützt.

Dann ergibt sich plötzlich die lang ersehnte Gelegenheit: Ein Kunde, mit dem sie sich gut versteht, hält um ihre Hand an. Doch Keikos Freude ist kurz: Sie muss erfahren, dass ihr Ehemann in spe ein verheirateter, mittelloser Schwindler ist, der ständig anderen Frauen Heiratsanträge macht. Für Keiko bricht eine Welt zusammen, sie fühlt sich gedemütigt, die Situation ist hoffnungsloser als je zuvor. In ihrer Verzweiflung betrinkt sie sich und öffnet Fujisaki (Masayuki Mori), einem alten Kunden den sie wirklich liebt, ihr Herz. Auch er gesteht ihr seine Liebe und entgegen all ihrer Prinzipien verbringt sie die Nacht mit ihm.

Doch der nächste Nackenschlag folgt postwendend: Fujisaki erklärt Keiko, dass er am nächsten Tag nach Osaka versetzt wird und dass er nicht den Mut hat, seine Familie ihr zuliebe aufzugeben. Nun ist sie völlig alleingelassen, hat noch dazu ihre Überzeugungen und Prinzipien aufgegeben und dadurch auch den Respekt und die Wertschätzung von Komatsu verspielt, der sie bei ihren Plänen immer unterstützt hatte. Schließlich fügt sie sich in ihr Schicksal: Sie verabschiedet sich am Bahnhof respektvoll und höflich von Fujisaki, und steigt die Stufen zur Bar hinauf, wo sie lächelnd die Kunden begrüßt.

When a Woman Ascends the Stairs ist neben Mother der beste Naruse, den ich bisher gesehen habe. Neben der vertrauten Thematik einer Frau, die versucht, ihrem Schicksal zu entrinnen, aber von sozialer Verantwortung (für ihre Familie), ausbeuterischen Systemen (der geldeintreibenden Barbesitzerin) und ihren eigenen Gefühlen (die von Männern ausgenutzt werden) daran gehindert wird, finden sich auch hier wieder großartig gezeichnete, absolut glaubhafte Charaktere. Trotz der Art, wie Keiko von den Männern und ihrer eigenen Familie behandelt wird, kann man ihnen nie wirklich böse sein, weil sie selbst nicht aus Bösartigkeit heraus handeln sondern selbst Gefesselte sind, die aus einer situationsgebundenen Notwendigkeit heraus das tun, was von ihnen erwartet wird.

Stellvertretend dafür steht ihre Familie, die nur das nach außen hin luxuriöse Leben sieht, das Keiko führt, und nicht begreifen will, dass dies zum einen hart erarbeitet ist, und sie zum andern darauf überhaupt nichts gibt. Statt Unterstützung und Verständnis hört sie von ihrer Familie nur Vorwürfe und Aufforderungen, zu helfen, etwa bei der notwendigen Operation ihres an Polio erkrankten Neffen. Und selbstverständlich gibt sie dem Drängen nach, ordnet ihre eigenen Pläne und ihr individuelles Streben nach Glück den Bedürfnissen der Familie unter.

Dieses Gefangensein in gesellschaftlichen Zwängen, persönlichen Erwartungen und zwischenmenschlichen Rollen ist das große Thema Naruses, und in keinem anderen seiner Filme hat er dies so kristallklar auf den Punkt gebracht, gerade auch visuell. Denn in vielen seiner Filme werden seine Charaktere in enge Gassen und dunkle Korridore gezwängt, doch das Bild der langsam die Treppe hinaufsteigenden Keiko erinnert wie kein anderes an ein düsteres Gefängnis, ja, an den Aufstieg zum Schafott.

Damit sind wir auch schon bei einem der Faktoren, die When a woman ascends the stairs zu einem selbst für Naruse herausragenden Film machen. Die meisten seiner Filme sind nämlich relativ „unscheinbar“ in dem Sinne, dass sie nicht durch eine spektakuläre, bemerkenswerte Bildsprache gekennzeichnet sind. Hier dagegen nutzen Naruse und sein Kameramann Masao Tamai das Widescreen-Format für brillante Kompositionen und beeindruckende Bilder, von denen sich mir einige unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt haben.

Ein weiteres Beispiel dafür wäre die Szene, in der Keiko durch die Frau ihres „Bräutigams“ von dem Heiratsschwindel erfährt, dem sie aufgesessen ist. Zunächst sehen wir die beiden sich unterhaltenden Frauen in der Halbtotalen, dann Keiko in Großaufnahme, wie sie realisiert, dass sie gedemütigt wurde, dass alle Hoffnungen und ihre Freude auf Lügen basierten. Schnitt auf eine Totale, die beiden Frauen mitten in einer kargen Industriebrache, rauchende Schornsteine im Hintergrund: Symbol für Keikos Isolation, Einsamkeit, Verzweiflung und die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Ein echter Gänsehaut-Moment!

Gleiches gilt natürlich die Schlussszene, als Keiko wie unter einem tonnenschweren Gewicht leidend die Treppenstufen zur Bar und damit zurück in ihr altes, verhasstes Leben hinaufsteigt, die Tür öffnet und aus dem Nichts das bezauberndste Lächeln aufsetzt, das man sich vorstellen kann.

[Hinweis: Dies ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der ursprünglich am 9. März 2007 gepostet wurde.]