Vom Kauf dieses Buches von Susan Napier, ihres Zeichens Professorin für japanische Kunst und Literatur, hatte ich mir vor allem einen Überblick über die Entwicklung, über Themen, Stile und Genres von Anime versprochen (und natürlich Inspiration für meine DVD-Wunschliste). Da Napier aber nunmal keine Filmhistorikerin ist, musste ich mit dieser Erwartungshaltung zwangsläufig enttäuscht werden. Denn sie wählt eine völlig andere, kulturzentrierte und interpretative Herangehensweise, die mir aber trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb?) hochinteressante Eindrücke ermöglichte, Nachdenkenswertes und Neues vermittelte.

Das Schlussfazit beginnt mit den Worten:

It is impossible to try and sum up the world of Japanese animation. As this book has tried to show, the anime universe is an extremely diverse one and it would be futile to attempt to pigeonhole it into any single categorizing structure.

Auch dies mag enttäuschend klingen und nicht gerade zum Kauf des Buches animieren, doch es ist schlicht und ergreifend die reine Wahrheit. Diese außergewöhnliche Komplexität und die – den Realfilm in den Schatten stellende – Heterogenität und Bandbreite von Anime macht sie Napier zufolge auch zum postmodernen Medium schlechthin:

Indeed, anime may be the perfect medium to capture what is perhaps the overriding issue of our day, the shifting nature of identity in a constantly changing society. With its rapid shifts of narrative pace and its constantly transforming imagery, the animated medium is superbly positioned to illustrate the atmosphere of change permeating not only Japanese society but also all industrialized or industrializing societies.

Der erste große (und umfangreichste) Abschnitt des Buches beschäftigt sich dann auch mit „Body, Metamorphosis, Identity“. Dabei werden anhand von Filmen wie Akira und Ghost in the Shell sowie einigen Serien das Verhältnis von Identität und Körper und wie dieses sich (beispielsweise während der Pubertät) auf einer persönlichen Ebene wandeln kann, Geschlechterrollen und -konflikte sowie Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter bis hin zur Krise der Männlichkeit beleuchtet.

Der zweite Abschnitt „Magical Girls and Fantasy Worlds“ thematisiert dann die große Dominanz weiblicher Charaktere und Heldenrollen in Animes und analysiert, welche Veränderungen der Idealtyp „Shojo“ im Verlauf der letzten 20 Jahre erfuhr. Dazu greift Napier vor allem auf die Filme Hayao Miyazakis, aber auch Fernsehserien zurück und zeigt auf, wie zur Idee „Shojo“ im Lauf der Jahre zunehmend dunkle Seiten und verstörende Aspekte hinzukamen.

Im letzten Abschnitt geht es dann um den Umgang mit und die Thematisierung von Geschichte in Animes, illustriert vor allem anhand von Barefoot Gen, Grave of the Fireflies und Prinzessin Mononoke. Von zentraler Bedeutung ist hier (aber auch an anderer Stelle) die oft in Anime vorherrschende apokalyptische Stimmung, Napier zufolge eines der drei den meisten Anime zugrunde liegenden expressiven Konzepte:

  1. Apokalypse. Diese geht weit über die Zerstörung der materiellen Welt (ein Setting, das den Hintergrund vieler Animefilme abgibt) hinaus und umfasst auch spirituelle, persönliche und pathologische Visionen der Apokalypse.
  2. Festival. Napier versteht darunter die Aufhebung oder Umkehrung bestehender Normen (sie verwendet dabei auch den an Bachtin angelehnten Begriff des „Karnevals“), wie sie vor allem in Komödien statt finden.
  3. Elegie. Ein in der japanischen Kultur mit ihrem Bewusstsein für die Vergänglichkeit der Dinge (mono no aware) tief verankertes Motiv. Verlust, sei er persönlicher oder gesellschaftlicher Natur, die daraus resultierende Trauer und der Umgang damit spielen in vielen Anime eine zentrale Rolle.

Keines dieser drei Konzepte bestimmt jedoch Filme oder Serien allein, es handelt sich immer um Mischformen und Überblendungen. Ein wichtiger Grund für die eingangs zitierte Unmöglichkeit, der Animewelt klare Strukturen überzustülpen.

Da ich viele der als Belege und Beispiele angeführten Filme und Serien des Buches (noch) nicht kenne, erlaube ich mir kein endgültiges Urteil. Auf minaidehazukashii kritisiert JP jedoch die Auswahl insbesondere der Mecha-Beispiele im ersten Teil, welche die eigentlich eingeführte Beziehung von Mensch und Körper schwäche sowie den etwas eng gefassten Zeitraum der berücksichtigten Anime. Die Schwächen der ersten Ausgabe bei der Analyse der romantischen Komödien wiederum sieht er durch die neu hinzu gekommene Analyse des sich verändernden Shojo-Typus ausgeglichen.

Mir persönlich fiel eine leichte Tendenz zu Überinterpretationen (so spannend das doch im Einzelfall auch sein mag) auf, die noch dazu oft nicht wirklich – oder zumindest nicht so, wie ich es von Filmtheoretikern gewöhnt bin – anhand von ausführlichen Szenenschilderungen oder Screenshots belegt waren. Auch hatte ich vereinzelt den Eindruck, dass nicht ins Konzept passende Zusammenhänge ausgeblendet werden. Bei der Analyse von Prinzessin Mononoke wurde etwa auf Ashitaka und seine von Nausicaä übernommene Mittlerrolle überhaupt nicht eingegangen, sondern allein auf die weiblichen Charaktere abgehoben, was natürlich im Sinne der These ist, dass Anime generell vor allem Frauenrollen zur Auseinandersetzung mit sich wandelnden Identitäten und Rollenmustern heranziehen.

Davon abgesehen bietet Susan Napiers Buch eine erfrischende, hochinteressante Perspektive auf Anime und hat mir mal wieder vor Augen geführt, wie wenig ich bisher immer noch von Anime weiß und wieviel es noch zu entdecken gibt. Wer mal einen anderen Blick auf seine geliebten Filme werfen und sich auch auf akademischem Niveau mit Anime auseinander setzen will, wird an Anime from Akira to Howl’s Moving Castle kaum vorbeikommen.