Ran

Original: Ran (1985) von Akira Kurosawa

Jahrelang hatte Kurosawa Geld gesammelt, Storyboards und Designstudien entwickelt, um sich auf dieses Projekt vorzubereiten, das die Krönung seines filmischen Schaffens werden sollte. Er ging sogar so weit, seinen vorhergehenden Film Kagemusha, der immerhin die Goldene Palme in Cannes gewann und für den Oscar nominiert war, als bloßen Testlauf für Ran zu bezeichnen. Und hat er erreicht, was ihm vorschwebte, nämlich sein Werk zu krönen? In mancher Hinsicht: ja.

Ran basiert auf Shakespeares Drama König Lear, versetzt die Handlung jedoch ins Japan des 16. Jahrhunderts. Der alternde Fürst Hidetora (Tatsuya Nakadai) beschließt, abzutreten und sein Reich unter seinen drei Söhnen aufzuteilen. Sein jüngster Sohn Saburo (Daisuke Ryu) hält nichts von diesem Plan und spricht seine Zweifel offen aus, weshalb Hidetora ihn verstößt. Doch schon bald erweist sich Saburos Skepsis als wohlbegründet, da die beiden Brüder Taro (Akira Terao) und Jiro (Jinpachi Nezu), getrieben von Ehrgeiz, Neid, Gier und der schönen aber hinterhältigen und skupellosen Lady Kaede (Mieko Harada) sich zuerst gegen Hidetora verbünden, ihn aus seinem Reich vertreiben und sich dann gegenseitig bekämpfen.

Dem Wahnsinn verfallen streift Hidetora durch sein zerfallendes Reich, begleitet und beschützt von einem treuen Vasallen und seinem philosophierenden Hofnarren. Während er von allen seinen Sünden, Schandtaten und dem Blutvergießen der Vergangenheit eingeholt wird, erkennt Hidetora, dass allein Saburo, sein von ihm selbst verstoßener Sohn, ihn wirklich liebte. Als dieser, unterstützt von einem benachbarten Fürsten, zurückkehrt, um seinen Vater zu retten, kommt es endgültig zum blutigen Untergang der Familie.

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Kurosawa baut den Spannungsbogen langsam und gemächlich auf, die erste Hälfte des Films ist geprägt von Gesprächen Hidetoras mit seinen Söhnen und den Ratgebern sowie den von Kaede gesponnenen Intrigen am Hof, die zu Hidetoras Isolation und Rückzug auf eine einsame Burg führen. Wie aus dem Nichts bricht dann über Hidetora das Schicksal in Form eines Angriffs seiner Söhne, und über den Zuschauer eine Schlacht herein, wie es so noch keine gab.

Im Gegensatz zu den realistisch dargestellten Schlachten, die Kurosawa früher in Die Sieben Samurai oder Die verborgene Festung inszenierte, ist diese sehr stark stilisiert. Kurosawa verzichtet auf diegetischen Ton, nur die klagende Musik Toru Takemitsus liegt in der Luft und die Bilder sind fast ganz in Grautönen gehalten, vom Rot des vergossenen Blutes abgesehen. Und das Blut fließt in Strömen! In drastischen, alptraumhaften Bildern zeigt Kurosawa verstümmelte Kämpfer, hingemetzelte Konkubinen, abgehackte Gliedmaßen und brennende Körper. Krieg wird als abartige, barbarische Selbstzerstörung der Menschen thematisiert und die Welt als ein Ort dargestellt, an dem Werte nichts mehr gelten und die Menschheit am Abgrund steht. Besonders eindrücklich zeigt dies die Schlusszene, in der ein Blinder – verlassen vom Glauben und seinen ermordeten Mitmenschen – auf sich allein gestellt am Rand eines Abgrunds taumelt.

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Wie in keinem anderen Film zuvor inszeniert Kurosawa eine alptraumhafte Welt voll surrealer Bilder, die dem Zuschauer die kommentierende, pessimistische Perspektive des Regisseurs regelrecht aufdrängen. Exemplarisch dafür stehen neben der erwähnten Schlacht auch das im Screenshot gezeigte Abgleiten Hidetoras in den Wahnsinn, als er buchstäblich von den Armeen seiner Söhne durch die Hölle geschickt wird. Auch Dialoge sind voll von Verzweiflung und Resignation. Beispiele gefällig? „Der Mensch zieht Trauer der Freude vor, und Leiden dem Frieden.“ Oder: „Der Mensch wird weinend geboren. Wenn er genug geweint hat, stirbt er.“

Mit seiner verzweifelten Stimmung und düsteren Thematik stellt Ran zweifelsohne den Höhepunkt von Kurosawas pessimistischer Phase der 1970er und 80er Jahre dar, in der er sich völlig von seinem in Filmen wie Ikiru oder Yojimbo zum Ausdruck gebrachten Credo, menschliches Handeln und der menschliche Wille könnten alle Hürden überwinden, lossagte. Doch Ran ist nicht nur in dieser Hinsicht ein außergewöhnliches Werk Kurosawas.

Einzigartig ist auch die starke Verfremdung, Schematisierung und Generalisierung der Charaktere. Drei Söhne, denen jeweils eine Farbe fest zugeordnet ist, blau für Saburo, rot für Jiro und gelb für Taro und die idealtypische, konzentrierte Verkörperung menschlicher Eigenschaften und Gefühle durch bestimmte Personen: Ehrgeiz bei Jiro, Selbstlosigkeit und Loyalität bei Kurogane, Grausamkeit und Hinterhältigkeit bei Lady Kaede, Großmut und Güte bei Lady Sue, Aufrichtigkeit bei Saburo. Dies will so gar nicht zu den vielschichtigen, vom Kampf mit sich selbst und dem Ringen von Gut und Böse gekennzeichneten Charakteren früherer Filme passen, die immer auch für die Entwicklung von Persönlichkeit standen. Ran dagegen wird durch diese Abstraktion menschlicher Charakterzüge und ihre Projektion auf einzelne Personen sowie die surreale Atmosphäre zu einer Parabel menschlichen Handelns.

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Mit dieser außergewöhnlichen Abstraktion erreicht Kurosawas Schaffen tatsächlich einen besonderen Höhepunkt. Ganz anders als in früheren Filmen wie etwa Rotbart, in denen die dem Zuschauer vermittelte Lektion immer eine emphatische Komponente hatte, ist Ran nur intellektuell zu erfassen. Es gibt niemanden, mit dem man sich identifizieren, niemanden mit dem man mitfühlen könnte. Der Zuschauer wird immer auf Distanz gehalten während Kurosawa die Abgründe der menschlichen Seele seziert.

Zudem überragt die schiere Bildgewalt von Ran alle anderen Filme Kurosawas: Die grausamen Schlachten, die grandiosen Panoramen, die stilisierten, an das Noh-Theater angelehnten Auftritte von Kaede und das verstörende Ende suchen ihresgleichen. Doch so sehr der Film visuell und intellektuell auch beeindruckt, etwas fehlt. Nämlich eben die in seinen früheren Filmen immer spürbare Begeisterung und Anteilnahme an der Entwicklung seiner Helden sowie der Glaube, etwas bewirken zu können.

Mit Ran erreichte Kurosawa zwar zweifelsohne einen Gipfel seines Schaffens, um seine Botschaft unmissverständlich zu vermitteln opferte er aber Menschlichkeit, Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit. So kann Ran, bei all seiner atemberaubenden Ästhetik und brillanten Abstraktion, niemals dieselbe Faszination und Begeisterung wie Die Sieben Samurai, Ikiru oder Rotbart im Zuschauer wecken.

Bei Asianpopcorn findet sich ein bunter Mix aus News, Interviews und Filmtipps aus Japan, Korea und China. Besonders umfangreich ist die Sammlung an Trailern. Gut gemachte Seite, aber ein bisschen zu zeitgemäß und celebrity-lastig für meinen Geschmack. Muss aber jeder für sich entscheiden, ein Besuch ist auf jeden Fall lohnenswert.

Jason Gray ist für Leser von Midnight Eye kein Unbekannter, hat er sich dort doch schon des öfteren mit japanischen Filmen auseinandergesetzt. Auf Jasons Blog gibt es mehr davon und vor allem mehr News, Gedanken und Interessantes auch jenseits der Filmwelt.

Um den Dreier vollzumachen hätte ich dann noch einen weiteren Lieferanten von Wissenswertem aus der japanischen Filmwelt, HogaNews. Kritiken finden sich hier aber eher selten, und der Fokus ist sehr US-zentriert (Kinostarts und ähnliches). Kann man in seinen Feed-Reader aufnehmen, muss man aber nicht.

Während ich gestern Shrek der Dritte sah und popcornkauend in meinem Kinosessel saß, musste ich an das Zitat von Manohla Dargis zum Unterschied zwischen amerikanischen und japanischen Animationsfilmen denken:

One of this week’s indisputable standouts is “Paprika,“ the latest eye-popping anime from Satoshi Kon (“Millennium Actress,“ “Tokyo Godfathers“), which, despite the dizzying spirals of its overly compressed narrative, offers continued evidence that Japanese animators are reaching for the moon (and other far-out destinations), while most of their American counterparts remain stuck in the kiddie sandbox with their underage audiences.

Shrek ist wirklich kein schlechter Film, er weist die bekannten, sympathischen Charaktere auf, ist witzig, hat eine zwar vorhersehbare aber doch nette Story und seine Animation ist in manchen Details (die Haare von Arthur oder Prince Charming!) unfassbar naturalistisch.

Doch da liegt auch schon ein Teil des Problems. Anstatt die Möglichkeiten der Animation für ungewöhnliche Effekte, spannende Bildkompositionen oder expressionistische Elemente, welche den Charakteren mehr Tiefe geben könnten, zu verwenden, versucht man sich bei Dreamworks daran, Haare oder ein Getreidefeld immer noch „realistischer“ und naturgetreuer hinzubekommen. Anstatt seinem Publikum etwas zum Staunen zu geben, es zu überraschen und dabei vielleicht auch zu fordern, verlässt man sich auf altbekannte Rezepturen und die etablierte Marke.

In den anderthalb Stunden Shrek, so unterhaltsam sie auch waren, dachte ich nicht ein einziges Mal „Wow“, war nie von den Bildern und der Kreativität der Animateure so überwältigt, wie mir das bei japanischen Anime regelmäßig passiert, kurz: das „eye-popping“ fehlte komplett. Und das ist kein Problem von Shrek, sondern von amerikanischen Animationsfilmen ganz generell. Man denke an Madagascar, Ice Age, Hennen rennen und auch die meisten der Pixar-Filme, die – was Charakterentwicklung, Tiefe des Plots und Kreativität der Animation angeht – nicht einmal im Entferntesten mit den Japanern mithalten können.

Zentrales Problem dabei ist, dass Trickfilme aus den USA nach wie vor ausschließlich auf das Komödien-Genre beschränkt sind. Niemand scheint die Möglichkeiten, die der Animationsfilm für so naheliegende ernsthaftere Genres wie Science-Fiction oder Fantasy, die Anime in Japan so erfolgreich gemacht haben, bietet, zu erkennen. Oder es wagt einfach niemand, auch mal den eigentlich logischen, ja überfälligen, Schritt über die Komödie hinaus zu machen. Dargis‘ Zitat weist hier bereits auf die einseitige Orientierung auf ein jugendliches Publikum hin, doch dies kann nicht der Grund für die Erstarrung der US-Animationsfilme sein, denn schließlich sind ja gerade Jugendliche die Hauptkonsumenten von Anime und müssten Experimenten gegenüber eigentlich aufgeschlossen sein. Zudem werden auch in Japan Kinofilme in erster Linie für ein junges Publikum produziert.

Vermutlich liegt der Kern des Problems – wie so häufig – in den Führungsetagen, wo über Filmprojekte und deren Budgets entschieden wird und wo Innovation, Kreativität und Risikobereitschaft häufig eben nicht als Garant für Erfolg gesehen werden. Auf das einzelne Filmprojekt bezogen mag das auch stimmen, aber auf lange Sicht bedeutet Stagnation schlicht Rückschritt. Angesichts der rasch wachsenden globalen Popularität von Anime mit ihrem breit aufgestellten thematischen Repertoire und ihren exzellenten, visionären und hochinnovativen Animateuren ist die US-Filmindustrie auf dem besten Weg, sich ohne Not in einer Nische einzubuddeln.

Tokyo Story, Kein Bedauern für meine Jugend, Repast… herausragende Filme einer außergewöhnlichen Schauspielerin. Setsuko Hara, die mysteriöse „Ewige Jungfrau“, wird heute, am 17. Juni 2007, 87 Jahre alt.

Portrait Setsuko HaraGeboren als Masae Aida, kam sie bereits mit 14 Jahren auf Empfehlung eines bei Nikkatsu tätigen Onkels zum Film. Bereits während des Krieges wurde sie zu einer der populärsten Schauspielerinnen Japans, bevor ihre Karriere dann in der Zusammenarbeit mit Yasujiro Ozu ihren Höhepunkt fand. Ihr großer Erfolg wurde jedoch von tragischen Ereignissen überschattet, so musste sie mitansehen, wie ihr als Kameramann tätiger Bruder bei einem Unfall während der Dreharbeiten zu Tode kam und konnte aus gesundheitlichen Gründen vielversprechende Rollen nicht annehmen.

Auch wenn sie – besonders in ihrer Zusammenarbeit mit Akira Kurosawa – ihre Vielseitigkeit eindrücklich unter Beweis stellte, waren es doch vor allem ihre Rollen als der Familie verbundene Tochter in den Filmen Yasujiro Ozus, die ihren Ruf prägten. Über diese Zusammenarbeit schrieb Fritz Göttler:

Um das Erschrecken der Jugend geht es in diesen Filmen, dass sie alle mal so werden müssten wie die Alten, und um das Lächeln der Alten, darüber, dass das Leben glücklich sein kann, auch wenn es die Hoffnungen nicht erfüllen mag, die man in der Jugend hatte. Dieses Lächeln ist das Geheimnis, das allein Setsuko Hara kennt.

Doch ihr Lächeln ist nicht das einzige Geheimnis, das sie umrankt. 1963, kurz nach dem Tode Ozus, kehrte sie der Filmindustrie den Rücken, brüskierte ihre zahlreichen Fans mit dem Kommentar, das Schauspielern sei eine Qual gewesen, die sie lediglich zur Unterstützung ihrer Familie auf sich genommen habe. Sie zog sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück, lebt seitdem abgeschieden in Kamakura und lehnte jegliche Interviews – selbst für eine Dokumentation über Ozu – ab. So rätselhaft ihre Charaktere, ihr Lächeln in ihren Filmen waren, so rätselhaft bleibt sie selbst.

Noch ein kleiner Überblick über ihre wichtigsten Filme:
1935: Tamerau nakare wakodo yo
1937: Die Tochter des Samurai (Atarashiki tsuchi)
1940: Hebihime-sama
1946: Kein Bedauern für meine Jugend (Waga seishun ni kuinashi)
1949: Late Spring (Banshun)
1951: Repast (Meshi)
1953: Tokyo Story (Tōkyō monogatari)
1954: Sound of the mountain (Yama no oto)
1960: Late Autumn (Akibiyori)
1961: The End of Summer (Kohayagawa-ke no aki)

Crazed Fruit

Original: Kurutta kajitsu (1956) von Ko Nakahira

Mit seinem Debutfilm Crazed Fruit läutete Regisseur Nakahira die japanische Nouvelle Vague (oder im Japanischen: Nuberu Bagu) ein. Die Geschichte über eine dekadente Jugend und ihre sexuellen Abenteuer, verbunden mit einem völlig neuen visuellen Stil machen diesen Film zu einem der einflussreichsten in der Geschichte des japanischen Kinos. Umso unverständlicher, dass er heute kaum noch gewürdigt wird und sein Regisseur komplett in Vergessenheit geriet.

Crazed Fruit beginnt mit einem auf die Kamera zufahrenden Motorboot, und während der Opening Titles (wie heisst das eigentlich auf Deutsch?) sehen wir eine Nahaufnahme des am Steuer sitzenden jungen Mannes. Erst ganz am Ende wird klar werden, dass die gesamte im Anschluss gezeigte Handlung ein Flashback ist, und zwar von Haruji (Masahiko Tsugawa), eben jenem Jungen im Motorboot. Er verbringt den Sommer mit seinem älteren Bruder Natsuhisa (Yujiro Ishihara) und dessen Clique wohlhabender Freunde am Meer, wo die jungen Leute ihre Zeit mit Parties, Pokern und Prügeleien totschlagen. Und natürlich mit Frauen.

Haruji fällt aus dieser Clique heraus, er ist sexuell noch unerfahren, zurückhaltend und kritisiert die Sinnlosigkeit des Treibens der anderen. Zudem verliebt er sich bereits bei seiner Ankunft in die mysteriöse, attraktive Eri (Mie Kitahara), deren sexuellen Reizen bald auch sein Bruder verfällt und der hinter Harujis Rücken eine Affäre mit ihr beginnt. Als Haruji den Betrug schließlich entdeckt, kommt es zur unausweichlichen Katastrophe.

Crazed Fruit Screenshot1

Bemerkenswert für einen japanischen Film der 1950er Jahre ist ein allgegenwärtiges sexuelles Vibrieren, das meist wie selbstverständlich die Stimmung prägt und manchmal zu außergewöhnlicher Spannung ansteigt. Herausragendes Beispiel dafür ist die erste Liebesszene mit Haruji und Eri, in der nichts passiert, die aber durch die detaillierte Dokumentation jeder noch so kleinen Bewegung auch eines Fingers in Großaufnahme geradezu knistert.

Die Geschlechterrollen und ihre Beziehungen untereinander sind jedoch völlig konventionell. Eri als Angelpunkt der Dreiecksbeziehung reagiert nur, geht nie in die Offensive, hat praktisch keinen eigenen Willen, ist nur als emotional und fühlend dargestellt. Sie leidet zwar unter der Situation und fühlt, dass etwas falsch läuft, ist aber nicht in der Lage, dies zu verbalisieren und die Männer – insbesondere Natsuhita, der sie massiv bedrängt – damit zu konfrontieren.

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Im Gegensatz zu Donald Richie im Audiokommentar der DVD sehe ich in Eri trotzdem einen interessanten Charakter: Sie ist mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet (diese Ehe scheint ihr aber nichts weiter zu bedeuten), entwickelt für Haruji – dessen aufrichtige, unschuldige Liebe ihr etwas gibt, was sie nie hatte – echte Gefühle und beginnt zudem noch eine leidenschaftliche Affäre. Ehe, Liebe, Leidenschaft – drei völlig andersgeartete Beziehungen, die sie nicht miteinander vereinbaren kann, zwischen denen sie sich aber auch nicht entscheiden kann. Gerade die Konventionalität ihres Charakters betont und kritisiert somit die Unmöglichkeit für die nach konventionellen Vorstellungen lebende Frau, Leidenschaft, aufrichtige Liebe und den Alltag des Ehelebens zu verbinden.

Nakahira greift zur Strukturierung des Films stark auf Parallelismen zurück, die offensichtlichsten davon sind die Großaufnahmen Harujis im Motorboot am Anfang und Ende sowie die verschiedenen Liebesszenen zwischen Eri und Haruji. Die bereits erwähnte findet später eine ähnlich strukturierte, aber entspanntere Wiederholung. Erster Kuss und erster Sex der beiden werden jeweils mit exakt demselben Ablauf und Setting (Fahrt im Auto, Spaziergang am Strand, in-die-Büsche-schlagen) inszeniert.

Montage Screenshots Crazed Fruit

Wieviel Wert Nakahira auf eine klare Strukturierung legte, wird besonders in der fantastisch inszenierten und geschnittenen Schlusssequenz deutlich, in der Haruji nach langer Fahrt und Suche endlich Eri und seinen Bruder in ihrem Segelboot findet. Zunächst beobachten die beiden erstaunt und ahnungslos das nahende Motorboot. Während die beiden wie eine Beute von ihrem Jäger umkreist werden, und langsam merken, dass etwas nicht stimmt, nähert sich die Kamera ihnen immer weiter bis zur extremen Großaufnahme.

Crazed Fruit ist ein großartiger Film, dessen Bedeutung für die Entwicklung des japanischen Kinos kaum überschätzt werden kann, und der mit der Masters-of-Cinema Criterion-DVD gebührend gewürdigt wurde. Auch wenn ich persönlich von Richies Kommentar (so sehr ich ihn auch als Kurosawa-Experte schätze) etwas enttäuscht war – er schweift einfach zu häufig und weit vom Film ab. Noch ein interessantes Detail am Rande: Mie Kitahara und Yujiro Ishihara wurden tatsächlich ein Paar und waren (hoffentlich glücklich?) verheiratet.

Zatoichi #1
Ich habe ja keinen Fernseher, aber es soll Leute geben, die ein solches Gerät besitzen… und die werden zur Abwechslung mal belohnt, es kommt nämlich Zatoichi von und mit Takeshi Kitano! Freitag, 22.06. – 00:15, ZDF

Zatoichi #2
Das Affenheimtheater berichtet von der neuesten Auflage der Endlosserie rund um den blinden Schwertkämpfer, der nun sein Geschlecht wechseln soll: Haruka Ayase übernimmt die Titelrolle, und ist im gezeigten Video von den Dreharbeiten schon eifrig dabei, die Gegner aufzuschlitzen.

Zatoichi #3
Eine ausführliche Rezension zur DVD der 20. Episode der Zatoichi-Reihe, Zatoichi meets Yojimbo mit Stargast Toshiro Mifune, gibt es drüben bei critic.de zu lesen.

Vom Kauf dieses Buches von Susan Napier, ihres Zeichens Professorin für japanische Kunst und Literatur, hatte ich mir vor allem einen Überblick über die Entwicklung, über Themen, Stile und Genres von Anime versprochen (und natürlich Inspiration für meine DVD-Wunschliste). Da Napier aber nunmal keine Filmhistorikerin ist, musste ich mit dieser Erwartungshaltung zwangsläufig enttäuscht werden. Denn sie wählt eine völlig andere, kulturzentrierte und interpretative Herangehensweise, die mir aber trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb?) hochinteressante Eindrücke ermöglichte, Nachdenkenswertes und Neues vermittelte.

Das Schlussfazit beginnt mit den Worten:

It is impossible to try and sum up the world of Japanese animation. As this book has tried to show, the anime universe is an extremely diverse one and it would be futile to attempt to pigeonhole it into any single categorizing structure.

Auch dies mag enttäuschend klingen und nicht gerade zum Kauf des Buches animieren, doch es ist schlicht und ergreifend die reine Wahrheit. Diese außergewöhnliche Komplexität und die – den Realfilm in den Schatten stellende – Heterogenität und Bandbreite von Anime macht sie Napier zufolge auch zum postmodernen Medium schlechthin:

Indeed, anime may be the perfect medium to capture what is perhaps the overriding issue of our day, the shifting nature of identity in a constantly changing society. With its rapid shifts of narrative pace and its constantly transforming imagery, the animated medium is superbly positioned to illustrate the atmosphere of change permeating not only Japanese society but also all industrialized or industrializing societies.

Der erste große (und umfangreichste) Abschnitt des Buches beschäftigt sich dann auch mit „Body, Metamorphosis, Identity“. Dabei werden anhand von Filmen wie Akira und Ghost in the Shell sowie einigen Serien das Verhältnis von Identität und Körper und wie dieses sich (beispielsweise während der Pubertät) auf einer persönlichen Ebene wandeln kann, Geschlechterrollen und -konflikte sowie Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter bis hin zur Krise der Männlichkeit beleuchtet.

Der zweite Abschnitt „Magical Girls and Fantasy Worlds“ thematisiert dann die große Dominanz weiblicher Charaktere und Heldenrollen in Animes und analysiert, welche Veränderungen der Idealtyp „Shojo“ im Verlauf der letzten 20 Jahre erfuhr. Dazu greift Napier vor allem auf die Filme Hayao Miyazakis, aber auch Fernsehserien zurück und zeigt auf, wie zur Idee „Shojo“ im Lauf der Jahre zunehmend dunkle Seiten und verstörende Aspekte hinzukamen.

Im letzten Abschnitt geht es dann um den Umgang mit und die Thematisierung von Geschichte in Animes, illustriert vor allem anhand von Barefoot Gen, Grave of the Fireflies und Prinzessin Mononoke. Von zentraler Bedeutung ist hier (aber auch an anderer Stelle) die oft in Anime vorherrschende apokalyptische Stimmung, Napier zufolge eines der drei den meisten Anime zugrunde liegenden expressiven Konzepte:

  1. Apokalypse. Diese geht weit über die Zerstörung der materiellen Welt (ein Setting, das den Hintergrund vieler Animefilme abgibt) hinaus und umfasst auch spirituelle, persönliche und pathologische Visionen der Apokalypse.
  2. Festival. Napier versteht darunter die Aufhebung oder Umkehrung bestehender Normen (sie verwendet dabei auch den an Bachtin angelehnten Begriff des „Karnevals“), wie sie vor allem in Komödien statt finden.
  3. Elegie. Ein in der japanischen Kultur mit ihrem Bewusstsein für die Vergänglichkeit der Dinge (mono no aware) tief verankertes Motiv. Verlust, sei er persönlicher oder gesellschaftlicher Natur, die daraus resultierende Trauer und der Umgang damit spielen in vielen Anime eine zentrale Rolle.

Keines dieser drei Konzepte bestimmt jedoch Filme oder Serien allein, es handelt sich immer um Mischformen und Überblendungen. Ein wichtiger Grund für die eingangs zitierte Unmöglichkeit, der Animewelt klare Strukturen überzustülpen.

Da ich viele der als Belege und Beispiele angeführten Filme und Serien des Buches (noch) nicht kenne, erlaube ich mir kein endgültiges Urteil. Auf minaidehazukashii kritisiert JP jedoch die Auswahl insbesondere der Mecha-Beispiele im ersten Teil, welche die eigentlich eingeführte Beziehung von Mensch und Körper schwäche sowie den etwas eng gefassten Zeitraum der berücksichtigten Anime. Die Schwächen der ersten Ausgabe bei der Analyse der romantischen Komödien wiederum sieht er durch die neu hinzu gekommene Analyse des sich verändernden Shojo-Typus ausgeglichen.

Mir persönlich fiel eine leichte Tendenz zu Überinterpretationen (so spannend das doch im Einzelfall auch sein mag) auf, die noch dazu oft nicht wirklich – oder zumindest nicht so, wie ich es von Filmtheoretikern gewöhnt bin – anhand von ausführlichen Szenenschilderungen oder Screenshots belegt waren. Auch hatte ich vereinzelt den Eindruck, dass nicht ins Konzept passende Zusammenhänge ausgeblendet werden. Bei der Analyse von Prinzessin Mononoke wurde etwa auf Ashitaka und seine von Nausicaä übernommene Mittlerrolle überhaupt nicht eingegangen, sondern allein auf die weiblichen Charaktere abgehoben, was natürlich im Sinne der These ist, dass Anime generell vor allem Frauenrollen zur Auseinandersetzung mit sich wandelnden Identitäten und Rollenmustern heranziehen.

Davon abgesehen bietet Susan Napiers Buch eine erfrischende, hochinteressante Perspektive auf Anime und hat mir mal wieder vor Augen geführt, wie wenig ich bisher immer noch von Anime weiß und wieviel es noch zu entdecken gibt. Wer mal einen anderen Blick auf seine geliebten Filme werfen und sich auch auf akademischem Niveau mit Anime auseinander setzen will, wird an Anime from Akira to Howl’s Moving Castle kaum vorbeikommen.

Original: Hōhokekyo tonari no Yamada-kun (1999) von Isao Takahata

Mit diesem Film begann im Studio Ghibli das digitale Zeitalter, es ist der erste des berühmten Animationsstudios, der komplett ohne die analog bemalten Cels auskam. Doch wer jetzt eine überschwängliche 3D-Welt erwartet, wird komplett enttäuscht: My Neighbors the Yamadas ist im Stil einfacher Wasserfarben- Skizzen gehalten und erinnert fast ein bisschen an ein Storyboard.

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Zu Beginn werden uns die Mitglieder der Familie Yamada vorgestellt, mit deren Leben und Zusammenleben sich der Film in einer Reihe von Episoden beschäftigt: Die Eltern Matsuko und Takashi, die Tochter Nonoko und der Sohn Noboru sowie Oma Shige. Eine durchgehende Handlung ist nicht vorhanden, vielmehr werden in einzelnen Szenen aus dem Alltag die Tücken des Ehe- und Familienlebens aber auch seine schönen Seiten thematisiert.

Die meisten der Episoden sind herrlich komisch, etwa wenn Matsuko und Takashi in einem „Fechtkampf“ mit Fernbedienung und Zeitung austragen, wer das Fernsehprogramm bestimmt, oder wenn Shige und ihr Sohn über Haus und Grundstück streiten und plötzlich Enkel Noboru ein „Was streitet ihr euch, am Ende gehört sowieso alles mir“ dazwischenwirft. Viele der Szenen dienen aber auch dazu, die Charaktere zu beleuchten, hintergründige Alltagsweisheiten zu vermitteln oder zum Nachdenken anzuregen. In diesen Fällen steht am Ende der Episode ab und an ein Haiku von großen Meistern wie Basho oder Buson und eine leichte Melancholie liegt in der Luft.

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Das wunderbare an My Neighbors the Yamadas sind die liebenswert chaotischen, schrägen Personen, in denen sich jeder ein Stück weit wiedererkennt und mit denen die Identifikation deshalb sehr leicht fällt, sowie seine Allgemeingültigkeit. Abgesehen von ganz wenigen Szenen, in denen spezifisch japanische Traditionen im Mittelpunkt stehen (aus dem Stehgreif fällt mir da jetzt nur ein, wie Takashi einen neuen Rekord im Verteilen der Neujahrskarten aufstellt), ist jeder Zuschauer mit den Situationen vertraut. Sei es aus seiner eigenen Jugend wie im Falle Noborus (Schulstress, erste Liebe), dem Arbeitsleben Takashis oder der eigenen Familie: Die kleinen, alltäglichen Reibereien im Zusammenleben von Mann und Frau, Eltern und Kindern. Diese werden immer originell und ohne Partei zu beziehen dargestellt.

Regisseur Takahata, Schöpfer des unvergesslichen Hotaru no haka, zelebriert hier regelrecht die Freuden aber auch Merkwürdigkeiten des Familienlebens und geht damit auf die Familienmüdigkeit vieler – gerade junger – Menschen ein und führt ihnen gleichzeitig eine andere Perspektive auf die Familie vor Augen. Mit dieser Thematik und der ungewöhnlichen Ästhetik des Films stellt er eindrucksvoll seine außergewöhnliche Vielseitigkeit unter Beweis. Ein wunderschöner, unterhaltsamer Film voller kleiner Wahrheiten, wahrhaftig ein Film für die ganze Familie, der seine ganzen Magie aber wohl nur in der japanischen Originalversion entfalten kann.